Andreas Weiland

“Ich erinner sie...” – Gedanken, aufgeschrieben, nachdem ich von Doris Schöttler-Bolls Tod erfuhr

Als ich Doris zum ersten Mal sah, wußte ich nicht, “das ist Doris.” Ich saß in einem Auditorium, einem, in dem ein Film laufen würde, Eika Katappa. Ich hatte den Film gesehen, in Mannheim, während der Filmwoche. Es war der einzige Film gewesen, der mich in eine Art Trance, nämlich einen Zustand seltener Ruhe und Konzentriertheit und des “Außerhalb von mir” und “Bei dem Film, in ihm Seins” versetzt hatte, obwohl es zwei andere Filme gab, die mich zu Interventionen bewegten, ein “Afrikanischer Western” von Ousmane Sembene und eine traumhafte Erzählung einer Reise nach einem Macao der Imagination, die mich veranlaßt hatte, Robert Beavers ausgiebig zu interviewen. 
Eika Katappa war ein Poem, eine Offenbarung – klar strukturiert, und zugleich wie jener Last Dance im soundtrack, eine mythologische Erzählung von Liebe und Tod, Einsamkeit und Gruppe, Entfremdung im Kapitalismus und Sehnsucht nach Befreiung. Zugleich – eine Hommage: an die italienische  Oper, an Maria Callas, an die populäre Kultur einer Zeit, die noch nicht durchrationalisiert, quantifiziert, die noch lebendig war, wie vielleicht eben nur Italien, das der Träume, Sehnsüchte, Zypressen und Zitronenbäume.
Doris war die kleine Rothaarige, die weit hinten, viele Reihen weiter, saß – die “kleine freche Rothaarige”, als die sie sich manchmal bezeichnete, wenn sie von ihrer Kindheit, ihrer Zeit in der Volksschule, und von ihrem geliebten Großvater, ihrem kleinen Hund sprach. Es war “Liebe auf den ersten Blick – also das, was die Amerikaner (die NORD-Amerikaner) “infatuation” nennen: Faszination, ein Gespür – vielleicht – für den Anderen, die Andere, sie, ihre Besonderheit. Wir sind alle “besonders” – irgendwie  – : aber da war der Funke, der übersprang. 
Sie kam von sich aus nach vorn, setzte sich zu mir, in die erste Reihe: die immer bevorzugte, schon allein wegen der schlechten Augen. Und während der Film lief, vermischten sich die Haare unserer eng an einander gepreßten Köpfe, während ich halblaut, leise, fast flüstern, kommentierte: die Schnitte, die Einstellungen, die “Blöcke” (or parts), die den Film rhythmisierten. Vielleicht auch – nein, vermutlich sogar mit Sicherheit –  seine poetische und zugleich realistische, von mir als klare, prägnante Gesellschaftskritik begriffene Metaphorik. 
Wolfram Schütte hat das auch– auf seine Weise – sensibel und kritisch beleuchtet. Später? Wohl kaum. Vermutlich las ich das bloß später, aus der Unistadt wieder einmal zur kurzen Visite “nach Haus”, zu den Eltern fahrend, in der Frankfurter Rundschau...
Nach dem Film gingen wir, immer noch über den Film sprechend, Seite an Seite durch die Nacht. Von der Uni, durch das Wäldchen, an Studentenheimen vorbei, bis zur der Kneipe, oder ist Gastwirtschaft der passendere Begriff, die im Bochumer Süden damals den Norden des Uni- und studentischen Viertels markierte, und die, fast Berliner Assoziationen aufrufend, wohl “Im Grunewald” hieß. Denn ein kleines Wäldchen grenzte dicht an das alte Backsteinhaus, seinen Garten. Hier, stehen bleibend, da ich – in eine Richtung deutend – sagte, Da unten wohne ich, machte sie klar: Kein “Gehn wir zu dir, oder gehn wir zu mir.” Sie war, sagte sie, verheiratet. Die Flamme erlosch, die der “infatuation.” So schnell kann das geschehen. Später sagte sie manchmal, mit einem Lächeln, “Die Lover kommen und gehn, aber die Freundschaften bleiben bestehen.” Ein schöner Spruch. Ja, wir sind Freunde geblieben, bis zuletzt, bis sie “ging”. Ja, und es ist vielleicht seltsam: der Wunsch, mir ihr zu schlafen, ist seit jenem Abend nicht zurück gekommen – auch, weil ich auf Oriel fixiert war, und seit Taiwan, auf eine andere Oriel – den verzaubernden “Berg aus Jade”, mit Jade-Augen, die still und klar glänzten. 
Ihren Mann, Peter, habe ich bald schon kennengelernt. Spöttisch erschien er mir damals, ein selbstbewußter Linker, gewiß jemand, der scharf nachdachte; er war schon oder wurde einige Zeit später Althusser-Übersetzer, vielleicht sogar Althusser-Spezialist. Jedenfalls dessen Positionen zugewandt. Ich plakatierte in der Uni surrealistische Sprüche, und griff – auf meinen im Sozialwissenschaftlichen Institut und bei den Germanisten hängenden Plakaten – einen Spruch anderer Studenten auf, der mir gefiel: “Gott  beschütze dieses Haus / vor Schelsky und Claude Levi-Strauss.” Ohne religiös aufgewachsen zu sein, war es mein Zeichen des Widerstands gegen das Starre, Nicht-Flüssige, das Beharren auf der Synchronizität des Materials, der sich jede fundierte Analyse bewußt sein müsse. Ein Assistent fragte damals vielleicht in didaktischer Absicht, vielleicht neugierig: “Vor Althusser auch?” Ob ich verunsichert war, weiß ich nicht mehr. Ich überlege zu viel hin und her, es gibt zu viele Für und Wider im Kopf, um sofort Ja oder Nein zu sagen. Aber instinktiv hätte ich sagen können: Ja, vor Althusser auch. Lieber, ganz eklektisch, Korsch, Sartre, ein nicht althusserianisch gelesener Gramsci, kein Lenin (damals jedenfalls nicht – man lernt dazu), aber Rosa und Alexandra Kollontai. Und natürlich – verrückt wie ich war oder wie ich erscheinen mußte – André Breton, René Crevel, Filme wie “Eika Katappa.” Das galt als “verworren”: diese Weite der Suche, die Affinität zu den Dichtern, den Künstlern, die gegen den Strom schwammen statt beinahe mit ihm, wie Rilke und Benn. Diese “Verrückheit” war es, die Peter spöttisch sein ließ, während ich – seit jenem Moment, als wir, jeder für sich, an jenem ersten Abend nach Hause gingen – ihr, Doris, Glück wünschte in ihrer Ehe. Ja, ich war (blieb wohl) sehr straight; die Revolte war poetisch, keine sexual revolution of sixty-eight. Das unterschied uns: Doris und mich, Peter und mich. Peter, der so den Geruch der Essener Bourgeois-Familie an sich hatte, als der Linke, nicht Sozialdemokrat, der er damals noch war. Ich hatte zu früh, als Kind, die Glas Wasser Theorie am Küchentisch sitzend gehört: daß Sexualität natürlich sei; man trinkt, wenn man Durst hat. Es gibt keinen Grund für Schuldgefühle. Ich wußte, als Kind, zu früh, daß die Realität anders war, daß Eifersucht keine Chimäre, kein ideologisches Hirngespinst war. Wenn sie falsches Bewußtsein spiegelte, saß sie doch zu tief, in den liebenden Körpern. Die Kulturrevolutuon geschieht nicht über Nacht, oder auf dem Papier, oder in Diskussionen. Auch die sexuelle nicht. Vielleicht weil ich Permanenz, Dauer wünschte –  nicht nur die Permanenz der Revolution -  liebte ich anders, wurde die Beziehung zwischen Doris und mir auf andere Art permanent.
Wir haben uns – sage ich – im Bochumer Filmclub zum ersten Mal gesehn: Das Jahr war das Jahr, in dem Werner Schroeter in Mannheim den Preis bekam für den gerade fertig gestellten Film, Eika Katappa.
Die amour fou der ersten Begegnung, diese kurze, fast momentartige Intensität verwandelte sich in etwas, das verläßlich wurde, schon bald. Sie las die Bücher der Surrealisten bei mir. Ich ihre Kunstbücher in ihrer Wohnung. Sie studierte nicht an der Bochumer Uni, studierte in Essen bei Wamper – da noch, wie später bei Bobeck, “spezialisiert” auf Plastik, auf Skulpturen?  Ich war beeindruckt von ihr, ihrer Lebendigkeit, ihrem Temperament, ihrer Neugier, ihrer Sensibilität. Nicht oder noch nicht, von der Kunst, die sie schuf. 
Sie war, damals, hörte ich später – in einer linken Partei. Wurde herausgeworfen, ausgeschlossen, wie ihr Mann und andere Freunde des Kreises Bochumer Althusserianer. Althusser – dafür war die Partei zu bieder. So gab es Kritik für den guten Louis von zwei Seiten: denen, die ihn als zu radikal sahen, richtigen “Deutschen” sozusagen, die selbst als Gesellschaftsveränderer brav die Bahnsteigkarte kaufen würden, und Leuten wie mir, die zu eklektizistisch waren: wohl auch Sartre mochten, weniger den frühen, als vielmehr den Autor der Kritik der dialektischen Vernunft. Jaeggi motivierte uns, das zu lesen.
Neben dem Herauswurf aus der Partei, der ihr gut tat, gab es eine andere Krise für Doris: sie hatte zu tun mit Vorstellungen, von denen sich linke Studenten nicht so schnell wirklich emanzipieren, auch wenn sie skandieren, “Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.”
Damals, noch in der Partei, sagte mir Doris später, gab es ein Tribunal, dessen Angeklagte sie war, und dessen Ankläger die kleine Gruppe linker, althusserianischer Studenten in der Parteizelle. Und es ging um Treue.
Es hat ihr wehgetan. Es war ein Verrat, in ihren Augen.  Sie wurde sehr krank. Als ich sie – wahrscheinlich außer Peter der einzige – im Krankenhaus besuchte, ging es ihr miserabel.  Damals wußte oder ahnte ich: es war eine psychische Krise, aber ich wußte nicht, warum. Das war auch besser so. Ob ich wirklich der einzige war, der sich Sorgen machte, weiß ich natürlich nicht. Aber –  jedenfalls sagte sie das, viel später: “der einzige”...
Nachschauend, wann Werner Schroeters Film in Mannheim prämiert wurde, lese ich: 1969. Also doch. Die Zeit um 1968, die Zeit der Demonstrationen. Die Zeit, als ich den ersten Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet im Filmclub sah. Dann 1971 meine Arbeit über Romane von Creeley, Douglas Woolf, Rumaker, Brautigan schrieb. Danach politisch aktiv wurde: Verteilen von Flugblättern morgens am OPEL-Tor, meetings des GOG Unterstützunghskomitees, Arbeit in der Stadtteilgruppe Laer. Wir motivierten Familien zum Mieterstreik, in Laer. Ich motivierte die Anderen in der Gruppe, für die Kinder in Laer eine Malgruppe zu machen, und wir kauften Malstifte und Zeichenblöcke für die Kinder dort, waren ein oder zweimal jede Woche dort, ermutigten sie zu malen, draußen, auf dem Rasen vor den Wohnblocks. Brachten Cassettenrecorder mit, hörten zusammen Musik, die den Kindern anscheinend gefiel. Es war schön.
Doris wohnte mit Peter in der Girondelle, im “Terrassenhaus”, einer vielgeschossigen modernistischen “Wohnmaschine.” Sie initiierte dort einen Mieterstreik, die kleine kämpferische Kunstakademie-Studentin, die mindestens einen Kopf größer war als ich. Und  auch sie startete eine Malgruppe für die Kinder. 1970, nachdem sie das Folkwang-Studium bei Bobeck in Essen abgeschlossen hatte, wechselte sie zur Kunstakademie in Düsseldorf, und landete sehr schnell bei Beuys. Er mochte sie, ermutigte, hatte Interesse für ihre Synthese von künstlerischer Forschung, Suche nach neuen Wegen, auch im Rückgriff auf Ansätze bei Schwitters, bei radikalen Künstlerinnen wie Hanna Höch und bei Feministinnen wie Luce Irigaray, und gleichzeitiger, ganz konkreter politischer Praxis. Machte sie nicht auch eine Ausstellung mit Bildern der Malgruppe – gleich im “Terrassenhaus” an der Girondelle, und photographierte das und zeigte Beuys die Bilder? Ja, solches “Zweihändig-Spielen” (wobei beide Hände eine enge, organische Verbindung herzustellen wußten) gefiel Beuys; was sie tat, kam seinen Vorstellungen von einer “sozialen Plastik” nah – und vielleicht inspirierte sie solche Konzepte, durch das, was sie um 1970-71 tat, sogar.
In diesen Jahren versuchte sie immer wieder, mich zum Freudianer zu machen, empfahl psychoanalytische Literatur. Sie war darin zuhause; ich weit weniger; mir kamen Freuds Kategorien zum Teil zu schematisch vor und sein Ansatz erschien mir unhistorisch. Die ganze “Psycho-kack”-Rezeption in studentischen  Zirkeln schien nur das wiederzukäuen, was ich  – in grosso modo – zu wissen glaubte und was durch die Reich-Rezeption zuhause “überholt” zu sein schien. Es war Sartres Weise, das Bewußtsein zu explorieren und in einen Zusammenmhang zu stellen, die mich faszinierte, und wie Sartre (und im Gegensatz zu den geschätzten Surrealisten) bevorzugte auch ich den Begriff des “Vorbewußten” anstelle der Kategorie des “Unbewußten”. Etwas konnte latent sein, verdrängt sein, aber was “nicht bewußt” und auch nicht “vorbewußt” war, war nicht da, im Seelischen: existierte einfach nicht, so sah ich das.  
Die studentische linke Freud-Rezeption und vielleicht Hoffungen auf Veränderung, auf Zerschlagung der einengenden –  sowohl in der Kindererziehung wie im Bezug auf die sexuellen Bedürfnisse der Eheparner (und da besonders der Frauen) eher repressiven – bürgerlichen Ehe mögen auch eine Motivation der Filmclub-Leute an der Bochumer Uni gewesen sein, die dazu führte, daß man ein Porno-Film-Wochenende, eine Filmschau am Freitag, Samstag und Sonntag, auf den Weg brachte. Später sagte Doris immer, wir hätten uns dort kennengelernt. Der Witz ist, daß ich mich genau erinner, daß ich damals Filme von Irm und Ed Sommer sehen wollte, außerdem die Illiac Passion von Gregory Markopoulos nochmal und einen Film von James Broughton, den ich als Poeten schätzte, seinen Kurzfilm, The Bed, der mir im Gegensatz zu Irm und Eds Beiträgen immer noch relativ  klar und deutlich präsent ist. Filme (oder doch einen Film) der Sommers hatte ich schon während des Ersten Internationalen Treffens unabhängiger Filmmacher in München 1969 gesehen; ich wollte meinen ursprünglichen Eindruck überprüfen; die anderen Filme im Pornofilm-Programm des Filmclubs interessierten mich kaum, und ich sah deshalb nur die Beiträge der Sommers, von Markopoulos und von Broughton. Aber Doris – während dieses Pornofilm-Programms? Sie sagte, sagte später, Ja, das war unsere erste Begegnung – und bei mir, ein Blackout, wie Politiker sagen würden, wenn sie sich nicht erinnern wollen. Aber ich wollte mich jedesmal erinnern, wenn sie sagte: Da begegneten wir uns; da kreuzten sich die Wege zum ersten Mal. Keine Erinnerung, wirklich. Neben ihr, dicht an sie gedrängt, den Eika Katappa-Film sehend, zu ihr zu sprechen, über die ganze Länge dieses Films, und zwar, nachdem mein Blick auf die Rothaarige im Publikum gefallen war: das blieb lebendig. 

Doris war ganz auf der “Freudschen Schiene” – zu sehr, wie mir schien. Aber später, ihre Arbeiten, ihre Photo-Montagen/Collagen  – denn sie kombinierte beide Prinzipien oder Verfahren auf neue Art, das der Collage und das der Montage – schienen mir tatsächlich aus dem Un- oder Unterbewußten gespeist. Sie waren aus diesem Strom virulenter Impulse und Wünsche, vielleicht auch verdeckter Trauer, verdeckter Ängste – ans Licht getreten: nicht explosiv, wie Magma eines Vulkan, sondern eher wie ein Licht, daß das Dunkel durchbricht und einen Ausschnitt des Sein sehr tief und vielschichtig sichtbar macht. Es waren Visionen, von etwas, das sehr verwurzelt war in dem Leben von Menschen, auch der Frau, die sie war. In manchen Arbeiten konnte man Spuren der Geschichte entdecken, und des Erschreckens, über diese Geschichte.
Mit der Arbeiten an Skulpturen war nach der Folkwang-Zeit Schluß gewesen; ja – es war noch in ihrer Bochumer Wohnung, daß ich die ersten Collagen und die ersten Photomontagen von ihr sah. Ihre Arbeitsweise war zärtlich, unglaublich vorsichtig, nicht brutal, wenn sie Bildmaterial zerschnitt und neu zusammenfügte. Ihre Kombinationen, gespeist aus einer Imagination, die für das Überraschende offen war. Immer aber kam ihr kritischer Geist, ihr Wissen um die Verhältnisse und ihre Gewalt, ihre Zwänge, immer ihre Sehnsucht ins Spiel.
1974 trennten sich unsere Wege, die Begegnungen, der Austausch, das sprechen über ihre Bilder, über meine Gedichte; sie ging mit Peter nach Paris, ich bald darauf nach Taiwan. In Paris traf sie Pierre Macherey, Etienne Balibar, Althusser, Derrida. Später zeigte sie mir den Brief, in dem Derrida  ihr (anscheinend in den späten 1970er oder frühen 80er Jahren) schrieb, ihre Bilder hätten ihn sehr berührt, “da sie wunderschön sind und viel zu denken geben.” Derrida – mit dem Peter ebenso wie mit Althusser und den anderen dieses Kreises als Übersetzer in Kontakt stand – hatte sie schon, ihre Ankunft in Paris annoncierend, vor ihrem Aufbruch nach Frankreich geschrieben, daß sie sich veranlaßt gesehen habe, sein Konzept der Dekonstruktion “zu entwenden”, weil es ihr als reduktionistisch erscheinen würde, bei ihren Arbeiten nur von Collage und Montage zu sprechen. Dem dialektisch begriffenen Konzept der De/Konstruktion blieb sie – all meinen Einwänden zum Trotz – bis zu ihrem Lebensende treu; ich bin aber überzegt, daß sie den Begriff auf etwas andere, dem spezifischen Entstehungsprozeß ihrer künstlerischen Arbeiten, mithin ihrer Arbeitsweise, sehr nah kommende Weise gebraucht hat. Er schien ihr da das Wesentliche zu treffen.
Ich bin nicht sicher, wann Peter und sie aus Paris fortgingen – nach Bremen, wo Peter einen Job an der Uni bekam und Doris einen Lehrauftrag.* Da war sie bereits freie, oder freischaffende Künstlerin – immer noch frei wie ein Vogel, immer noch und immer mehr, schaffend, und die Freiheit der schaffenden Künstlerin drückte sich dadurch aus, daß sie nicht davon leben konnte. Ohne Peters Gehalt ging nichts; das Geld, das sie für den Lehrauftrag bekam, reichte nicht einmal, um einen Teil der Produktionskosten ihrer PhotoCollagen/Montagen zu bezahlen.  
In Bremen fand sie, als engagierte Frau, Feministin und Künstlerin, Frauen in ihren Kursen, die sich begeistern ließen, die interessiert waren an kritischen Fragestellungen, an der eigenen beginnenden künstlerischen Praxis und an Theorie, und zwar nicht nur “Kunsttheorie”, eher ging es um die Verzahnung von Kunst und Leben (wie bei Beuys), Kunst und Gesellschaft, wie bei Autoren solcher Zeitschriften wie Das Argument. Ließ auch die von Konrad Boehmer in Amsterdam herausgegebene Zeitschrift grüßen? Mag sein. Die von ihr kuratierte Ausstellung “Haare, oder Spurensuche des Weiblichen” zeigte eigene Arbeiten, aber vor allem Arbeiten der Kursteilnehmerinnen. Brisant war Anfang der 1980er Jahre auch ihre Ausstellung “Photoalbum, Porträtphotographie, Polizeiphotographie” (1980), die vermutlich von einer intensiven Foucault-Rezeption inspiriert war. 
Das Jahr 1985 markiert eine Wende in ihrem Leben: die Trennung von Peter, die von ihr ausging – auch weil Peter anscheinend mit ihrer Weise, Treue zu ihm zu leben, ihn gern zu haben, sogar sehr innig, aber doch ihre sexuellen Bedürfnisse nicht zu unterdrücken – vielleicht nicht so umgehen konnte, wie sie es erhofft und gewünscht hatte. Sie wollte keine Eifersucht, schon gar nicht gepaart mit den Extremen der gezeigten Verwundbarkeit, Anhänglichkeit, und der Aggression – so jedenfalls habe ich sie, viel später, als alles längst “Geschichte” war,  verstanden. Es scheint wahr zu sein: neue Verhältnisse existieren nicht; unter den alten sozialisiert, auf neue Weise zu leben, gelingt noch nicht oder den wenigstens. Wir irren herum wie Verlorene, pendelnd zwischen  Bedürfnissen konträrer Art – dem nach emotionaler Sicherheit, und dem nach grenzenloser, unbevormundeter Freiheit. Sie, Doris, hat die Freiheit gewählt: den bitteren, steinigen, schmalen Pfad, der extremen materiellen Unsicherheit, als Künstlerin und als Frau.
1985 war auch das Jahr, in dem sie Bremen verließ: Ein Aufenthalt als artist in residence in einer kleinen Wohnung nebst Atelier  – im  der Stadt Essen gehörenden Schloß Borbeck  – war der Anlaß, nein, der Grund, neu zu beginnen. Es war zugleich das Jahr ihres “großen Durchbruchs” (so konnte es erscheinen) als nicht mehr nur in Museen wie der Bremer Weserburg (während ihres Bremen-Aufenthalts) ausgestellte, von der Kritik nunmehr tatsächlich wahrgenommene Künstlerin. Den Beginn machte die große Einzelausstellung im Landesmuseum Bonn, kuratiert von Klaus Honnef, Experte unter den  Ausstellungsmachern, für Photographie und verwandte Bereiche; es folgten im selben Jahr die Einzelausstellung im Clemens-Sels Museum in Neuss, und die Einzelausstellung im Museum Bochum, 
Die Galerien, die Käufer ließen auf sich warten. Sie lebte mehr schlecht als recht von ihrer Arbeit, und ich weiß, wie viel Arbeit es war, nicht nur in ihrem Atelier – sondern dann auch in den großen Foto-Reproduktionsanstalten, wo sie die Produktion kleiner Auflagen sehr großformatiger Arbeiten minutiös und ständig mit dabei seiend überwachte. Doch nein, das, war sie tat, trifft der Begriff überwachen gar nicht; es war vielmehr so, daß sie,  sensibel mit den Fachleuten dort zusammenarbeitend,  die Arbeit begleitete, versuchsweise hergestellte Reproduktionen begutachtete, verwarf, sehr viel lernte und auch Wissen vermittelte, über das, was beitrug zur Rettung der Farbnuancierung des Originals und der Bewahrung der photographischen Effekte – etwa der Solarisation – auf die es ihr jeweils ankam. Die Rechnungen für die Herstellung dieser kleinen Auflagen waren – in ihren und auch in meinen Augen, am jeweiligen Einkommen gemessen – horrende. Es war die Schere, zwischen Einkommen und Produktionskosten, die ihr auf Sicht, blieb die entsprechend zahlungskräftige Nachfrage aus, den Hals brechen mußte. Dichterfreunde, Autoren kauften – bewegt von der Kraft ihrer Arbeiten – manches von dem, was unter ihren Händen entstand. D.E. Sattlers Eulogie (oder vielmehr seine klugen, kritischen Anmerkungen zu ihren Arbeiten), das haftet in meinem Gedächtnis, doch auch, daß er sie – in einem Text wohl – die “Königin von Saba” nannte. Ja, sie hatte etwas von einer Königin, auch von einer verruchten Rothaarigen, deren Anblick die Bauarbeiter zu Zoten veranlaßte, als sie mich – das war viel später – in den 90er Jahren –  in der norddeutschen Provinz besuchte. Nein, sie sah nicht aus wie die “Muttis” der Arbeiter in der Provinz. Eher “Königin von Saba” mit langer Zigarettenspitze. Das provozierte manche. Daß Sattler,  daß Derrida, daß Urs Jaeggi, Jürgen Link, Klaus Honnef, Hiekisch-Picard und eine ganze Reihe kluger Frauen (darunter Marianne Schuller) viel von ihrer Kunst hielten, daß es innovativ war, sensibel, poetisch, kritisch, erschwerte die Rezeption.  Auch die evozierten Erinnerungen, etwa an Koffer, die übrig blieben, wenn Menschen für immer verschwanden im Rauch, oder an  die deutschen Farben mit der glutroten Asche der Krematorien und dem Gold der Deutschen und Dresdner Bank, dem Schwarz Kleistscher und ihrer Trauer – das verstörte. Das lockte die Kunden nicht.
Die Galeristen waren, eingeladen in ihr Studio, noch nicht einmal bereit, vorbeizukommen – und sie zu empfindsam, um sich ihnen anzudienen: wie ein Bittsteller, mit Arbeiten unter dem Arm, bei ihnen zu erscheinen.  
In einem Buch von Francis Ponge, daß sie mir – vermutlich war's in den frühen 70er Jahren – schenkte, lese ich Sätze wie diesen, daß die Künstler oder, besser noch, “Schöpfer (die, denen man diesen Namen gibt) diejenigen seien, “denen es schwerfällt, in die Welt einzudringen, und die eine große Beharrlichkeit und Kraft besitzen, es zu tun: sie bringen das Getriebe zum Knirschen und lenken damit die Aufmerksamkeit auf sich, sie rufen zuerst Verärgerung und Zorn hervor und entstellen das Ganze auf so heillose Art, daß die Welt sich ihnen anpassen muß.”  Ja, auf ihre Weise hat Doris wie lange vor ihr Hanna Höch unsere Perzeption der Wirklichkeit entstellt: sie hat sie – wenn auch nicht brechtisch, sondern beeinflußt vom Surrealismus, ein Stück weit auch in Kombination mit formalen Anklängen an comic-artige Werke der US-amerikanischen Pop Art (etwa in ihrer Arbeit “Wildnis” (1985)) – “verfremdet”. Das Echo war unter Kollegen zwiespältig; bei einer Reihe von Kunstkritikern positiv; das große Publikum jedoch bekam – sieht man von den aufgeschlossenen “kleinen Leuten” in der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Anfang der 90er Jahre bezogenen Ateliers  einmal ab  – ihre Arbeiten kaum zu sehen. Das blieb so, trotz der Einzelausstellungen in Bonn, in Neuss, und im Museum Bochum, wo Sepp Hiekisch-Picard große Stücke auf sie hielt und sie auch einlud, an der Ausstellung “Wo bleibst du, Revolution?” (zum 200. Jahrestag des Ausbruchs der Französischen Revolution [1989] ) teilzunehmen.
Eine schon alte, jedoch sensible Lokalreporterin nahm Doris und ihre Kunstwerke im Essen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wirklich wahr. Darüber hinaus vor allem der damalige Kulturdezernent, Oliver Scheidt, und der Architekt Werner Ruhnau –  zwei Menschen vor Ort, die zu ihr standen und mit denen sie bald eine herzliche Freundschaft verband. Ruhnau, der mit Yves Klein bei der Gestaltung des Gelsenkirchener  Musiktheaters zusammengearbeitet hatte, schätzte sie so sehr, daß er sie 1995 enlud, an der Gestaltung des Umbaus des Essener Grillo-Theaters mitzuwirken: sie schuf ein Ensemble von Photocollagen/-montagen im südlichen Foyer-Teil über dem Eingang zum Theatersaal, daß sie “Durchqueren – für Büchner und Kleist”  nannte: es war ein Durchqueren von Bildern, eingebrannt in ihr Innerstes, der deutschen Geschichte –  Bilder im Kopf, die begannen bei den Traumata des 1811 durch Selbstmord 34jährig gestorbenen Dichters, und die über Woyzeck, den Hessischen Landboten und die Verfolgung eines revolutionären Dichters der Vormärz-Zeit nach Auschwitz führten und zum goldenen Wirtschaftswunder im alles verdrängenden Mutter- und Vaterland, Land der Geburt. Sie sah das Bildensemble wie eine écriture, eine Schrift, zerrissen und zuckend, an der Wand des Theaters – und es war wohl kein Wunder, daß die Stadt Essen, aus Anlaß eines Intendantenwechsels, das Bildensemble später entfernte, in Kellerräumlichkeiten verschwinden ließ, und erst nach heftiger, anscheinend mehrfacher Intervention Werner Ruhnaus – eine, wie mir scheint, fadenscheinige Begründung des Entfernens vorbringend – erneut an der alten Stelle über der Tür anbrachte. Schon bei der Einweihung hatte jemand, auf einen Text im Katalog  sich beziehend, der auf drei als Kriegsverbrecher verurteilte  Häupter großindustrieller Dynastien von Stahlbaronen anspielte (auf das Ungeheuer, das mythische: die Kruthyröchs), Doris unverblümt gefragt: “Sind sie Kommunistin?” Nein: sie hatte die Nase voll von Parteien – von allen. Vielleicht: wenn kritische Solidaritität mit den vom Kapital Ausgebeuteten (deren Existenz – wie unser aller Existenz – eine entfremdete ist, und deren Bewußtsein heute oft weit entfernt davon scheint, wirklich wach und kritisch zu sein) jetzt das Wort, das zum Schimpfwort wurde, verdient.  Sie wollte verändernd wirken, und tat es konkret, vor Ort, als Bürgerin und Künstlerin. Die Welt, wie sie ist, wie sie noch ist, unsere Verhältnisse hier: das war es nicht, was bleiben sollte, wie es ist. 
1982 war ich wegen  einem Job an der Uni nach Aachen gegangen, aber oft, wenn ich auf der Reise aus Ostwestfalen (wo der verwitwete Vater wohnte) nach Aachen durch “ihren Ort” im Ruhrgebiet kam, besuchte ich sie im Schloß, seit sie dort, im Norden von Essen, als artist in residence lebte. Sah ihre Arbeiten. Hörte ihr zu. Sie sprach gern, ist lebhaft im Sprechen, so immer noch, in der Erinnerung. Manchmal las sie eine ganze Nacht lang aus einem Buch, das sie liebte, das sie bewegte, mir vor. Es waren schöne, innige Momente der Nähe. Die Lover kommen, gehen – aber etwas, eine solche Freundschaft, bleibt.
Sie besuchte mich in Aachen, hin und wieder. Einmal sagte sie mir: ich kenne hier, in der Nähe, in der Ottostraße, einen interessanten Maler. Er ist Kanadier, Angelo Evelyn – Du muß ihn kennenlernen. Und wir besuchten gemeinsam sein Atelier. Oft trafen wir uns mit Haluk und Peter Klein, der auf so wunderbare Weise seine Buchhandlung Backhaus – die interessanteste weit und breit – finanziell am Überleben hielt (was sein Erbe aufzehrte), sowie einigen Kunsthistorikern, die zu ihrem Freundeskreis gehörten, im Labyrinth – Myrtos griechischem Restaurant – und führten lange Debatten bis tief in die Nacht. Doris erinnerte auch oft daran, wie wir einmal, weil Wäsche zu waschen war, die halbe Nacht im Waschsalon Mississippi an der Jülicher Straße saßen: es wurde eine weitere öffentliche Lesung, denn sie hatte mich gebeten, Texte mitzunehmen, ihr Gedichte vorzulesen, was ich tat. So saßen wir nebeneinander im spärlich beleuchteten Waschsalon, den Rücken zum Fenster, und ich las ihr vor, während manche der anderen mithörten.
In den achtziger Jahren war es wohl auch, daß die Straubs eine kleine Werkschau in einem Bochumer Kino hatten; Leute vom Theater, der Intendant wahrscheinlich, hatten es organisiert, und Jean-Marie schrieb mir, um es mir mitzuteilen. Also kam ich von Aachen nach Essen und fuhr dann mit Doris nach Bochum. Danièle erhielt einen große Blumenstrauß, entweder bei der Einführung oder – wahrscheinlicher – zum Ende der Veranstaltung, und als wir vier dann danach vor dem Kino auf der Straße standen, gab sie Doris mit sehr herzlicher Geste den Blumenstrauß. Es war ein Zeichen der Nähe, vielleicht, des Funkens, der so oft zwischen Doris und anderen Künstlern, Filmmachern, Literaten übersprang. 
Anfang 1989 lud Doris mich ein, mit nachzudenken über eine Ausstellung, die sie kuratieren würde; sie sollte in der Galerie von Schloß Borbeck stattfinden; Oliver Scheidt hatte grünes Licht gegeben; die Mittel waren schon bewilligt.
Sie hatte eine ganze Reihe guter Künstler im Visier, die sie inladen wollte, darunter Nan Hoover, Nobert Schwontkowski, Harald Falkenhagen, Toto Frima. Timm Ulrichs und einige andere. Auch Angelo Evelyn. Ich schlug auch Tony Morgan vor, dessen Arbeiten ich sehr mochte. Das Konzept war klar: Künstlerinnen und Künstler mit ähnlichen Sujets, Fragestellungen, oder Forschungsinteressen sollten jeweils als Paar für eine Zeit von vielleicht drei Wochen ausstellen, bevor das nächste Paar dran war. Das Publikum sollte, und auch sie wollte entdecken können, ob die Realisationsweise der Arbeiten spezifisch männliche bzw. spezifisch weibliche Merkmale aufweist. Der Titel Unter einem Himmel rekurrierte auf den chinesischen Ausdruck, die Frauen seien die Hälfte des Himmels. Er betonte die Spezifizität jeder Hälfte,  aber auch die Einheit, das Verbindende, das Existieren in denselben Verhältnissen, derselben Welt, und das Verlangen nach einander, das gegenseitige Angewiesensein auf einander, auch auf Solidarität. Gemeinsam, hieß das, für Befreiung “kämpfen” – mit und in Bildern, manchmal in Worten, mit Taten. Gemeinsam, nicht gegen einander.  Es gab viele Zuschauer. Noch schöner: Menschen wie Nan Hoover, Eu Nim Ro, Harald Falkenhagen, Norbert Schwontkowski, oder Timm Ulrichs mochten Doris. Sie schätzten vieles an ihr – ihre Sensibilität, ihre Klugheit: sie nahmen sie als Kuratorin und als Kollegin ernst. Und Sympathie war im Spiel. Zu Timm Ulrich entstand eine innige Freundschadt, auch zu Tony Morgan. Es war eine gute Ausstellung; es gab auch eine passable Pressemappe, danach. Die Ordner, zur Ausstellung, die bei der Stadt Essen landeten, waren von erheblichem Umfang. Als Doris Jahre später danach fragte, waren sie offenbar “entsorgt” – ein Zeugnis, das ein Moment der Kulturgeschichte beleuchtet, aus dem Weg geräumt. Aber das war in der Zeit der Konflikte zwischen Doris und der Stadt, soweit hier der Kämmerer und die “Immobilienwitschaft” als separates Ressort zu Wort kamen.
Als 1989 der mietfreie Aufenthalt auf Schloß Borbeck, also das “Artist in residence”-Stipendium auslief, war dem Kulturbüro der Stadt daran gelegen, die Künstlerin, die große Einzelausstellungen gehabt hatte und die eine viel beachtete Ausstellung in der städtischen Galerie von Schloß Borbeck konzipiert und kuratiert hatte, in Essen zu halten. Essen ist im Norden in weiten Bereichen eine arme, und im Süden eine reiche Stadt – eine Stadt, die aus zwei Städten besteht, einer bourgeoisen und einer proletarischen Stadt. Es ist auch eine Stadt, in der das Geld dominiert und die Industrie, will sagen, Finanz- und Industriekapital. Die Arbeit der Arbeiter zählt, kann man sie verwerten. Die Kunst und die Literatur zählen – wie so oft – nur am Rande; das Theater, selbst wenn die Schauspieldirektoren Format haben, wird nur goutiert, wie ein Ornament des bürgerlichen Lebens; nicht von allen, aber von vielen, die es dahin zieht; und die Politiker finanzieren es, weil sie es ihrer Klientel, ihrer Bourgeoisie schulden. Das Kritische und das Formal-Innovative des Theaters, wenn es in Erscheinung tritt, ist dieser Politik und dieser Klientel  oft fremd und verdächtig. Manchmal wird es mißverstanden, manchmal ist es geduldeter side effect der Unterhaltung, die man begehrt. Es ist kein  Wunder, daß gute Künstler aus Essen “flohen”, auch ein sensibler, kluger, kritischer Dichter wie Nicolas Born. Essens Provinzpresse hat für solche Menschen weder Kopf noch Herz und auch nur wenig Platz im Feuilleton. Doris, die vor ihrer Bochumer Zeit mit Peter in Essen lebte, die den Essener Bourgeoissohn Peter als junges Mädchen, junge Frau – übrigens in zweiter Ehe, nach der mit Wiesenthal – heiratete, hätte es wissen müssen. Daß ihre Mutter in Essen lebte, und daß die Rückkehr nach Bremen, in die Stadt also, in der ihr immer die Künstlerförderung und auch sonst viel Unterstützung zuteil geworden war, nach der Trennung von Peter unmöglich schien – : machte das jenes Angebot einer Atelierwohnung in Essen-Steele so verlockend? Nach dem Auslaufen des Atelieraufenthalts im Schloß war sie ja im Prinzip auf einen Schlag wohnungslos. Und über reiche Mittel aus Bilderverkäufen verfügte sie wohl kaum.
Die Alte Schule in Essen-Steele war 1989 eines von verschiedenen Atelierhäusern, welche ein fortschrittliches kulturpolitisches Programm in den Stadtteilen geschaffen hatte. Der fortschrittliche Ansatz der Strategie enthüllte sich auch darin, daß Künstler, die mietfrei Studios angeboten bekamen (mit der Verpflichtug, die Nebenkosten für Strom und Wasser zu zahlen), die Auflage erhielten, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, also auf die Bürger im Viertel zuzugehen, sie für Kunst zu interessieren, ihnen – in einem von ihnen selbst zu steckenden Rahmen und Umfang – die Ateliers zu öffnen, und so weiter. Das gefiel Doris. Entsprach ihrem Verständnis von den Aufgaben der Kunst und des Künstlers, von der erstrebenswerten Einheit von “Kunst und Leben”, von künstlerischer Produktion als Teil des lebendigen Lebens, und ihrem notwendigen Bezug auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und naturhaften, natürlichen Seins.  
Ein Schock war die Besichtigung der für sie vorgesehenen Räume im Dachgeschoß der “Alten Schule” im Essener Stadtteil Steele (der  Rest der Schule, bis auf gemeinschaftlich zu nutzende Flächen wie Treppenhaus, Toiletten, Keller, war dem Bildhauer Lungwitz “unbefristet” überlassen). Die Räume waren die Hausmeisterwohnung unterm Dach gewesen, zum Teil vor Jahren mit inzwischen als gefährlich erkannten Baustoffen abgedichtet. Es gab kein Badezimmer, keine Badewanne. Die Fenster waren in katastrophalem Zustand. Die Fußböden: beschädigt. Die Isolation zum Dach hin, unzureichend. Hohe Räume, aber schlechter Zuschnitt, oft schräge Decken – denn es war eben Dachgeschoß, auch wenn es bei der beträchtlichen Höhe des Schuldachs noch einen kleinen Speicher über der Dachgeschoßwohnung gab.
Ich habe das alles im Herbst 1989 gesehen, als Doris noch im Schloß wohnte, aber bereits mit der Sanierung begann. Denn das war der Pferdefuß: zwar kam man ihr entgegen, indem man erlaubte, daß sie die Räumlichkeiten nicht nur als Atelier, sondern auch als Wohnung benutzen durfte. Ebenso bekam sie in einem Schreiben des Kulturbüros, daß die Vergabebedingungen auflistete, mitgeteilt, daß es eine unbefristete Vergabe auf Nebenkostenbasis, ansonsten eben mietfrei, sei. Aber: Sie müsse die Sanierung auf eigene Kosten stemmen.
Wie hat man sie eigentlich eingeschätzt, als welchen Krösus? Für was hält man Künstler, wenn sie ihren ersten großen Erfolg, auf Grund wichtiger Einzelausstellungen hatten? In den nächsten Jahren habe ich Doris oft auf der Durchreise besucht, und sie immer in staubigem Arbeitszeug beim Abschmirgeln von Türen, beim Reparieren von Treppengeländern, beim Ausbessern, nein Ersetzen der Bohlen der Fußböden, beim Streichen und Lackieren – mithin in handwerkliche Arbeit vertieft vorgefunden. Ab und zu waren auch Handwerker da, doch das meiste – die wirkliche Last – ruhte auf ihren Schultern. Sie steckte ihre Ersparnisse, und die Gelder, die durch Bilderverkäufer reinkamen, in die Sanierung und lebte von der Hand in den Mund. Lebte sie vor allem von Zigaretten? Die Belastung durch das, was ihr aufgebürdet war mit der Verpflichtung zu sanieren, wurde nur aufgewogen durch die Befriedigung, die gut gemachte, selbst getane Arbeit erzeugt. Sie wollte nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten sanieren, penibel, sensibel. Sie kaufte teure Öle, um die neuen Fußbodenbohlen im natürlichen Farbton des Holzes zu bewahren, aber zugleich gut zu schützen. Sie benutze gute Farben “mit dem blauen Engel” – keine, die riskant sind. 
Nach drei oder vier Monaten Sanierung, Anfang 1990, erhielt sie ein Schreiben, nicht vom Kulturbüro, sondern von der für städtische Immobilien zuständigen Abteilung, mit einem Mietvertrag über zehn Jahre, den sie unterschreiben sollte, und einer darin genannten Mietsumme. Das Kulturbüro beruhigte sie: das sei nur pro forma, falls sie ausziehe, irgendwann  und Geld für die geleistete Restaurierung von der Stadt fordern würde. Mit ungutem Gefühl unterschrieb sie. Dann wohnte sie zehn Jahre mietfrei, bekam – ich denke – wohl im Jahr 2000 eine Mietforderung, die ihre Möglichkeiten überstiegen hätte, auf den Tisch geknallt und erfuhr, inoffiziell wohl, daß die Stadt Interesse hatte, das Schulgebäude zu verkaufen. Lungwitz war schon tot, die Stadt hatte von den Söhnen schon längst die Entfernung seiner Skulpturen aus der Schule und dem Schulgarten verlangt. Jetzt “störte” nur noch sie. Den ersten Streit mit der Stadt gewann sie durch Ausdauer, gute Argumente, aber es waren zehn weitere zermürbende Jahre; den zweiten Anlauf unternahm die Stadt wenige Jahre vor ihrem Tod; Doris gewann den Prozess (war es nicht wegen einer fristlosen Kündigung, frage ich mich jetzt), und kaum war er gewonnen, flatterte eine Kündigung für – ich glaube, November 2014, auf ihren Tisch. 
Ja, das Kulturbüro und das Museum standen hinter ihr, aber wie war schon deren Macht (und um die geht es hier) in der städtischen Administration... Die Grünen standen fast bis zum Schluß hinter ihr; erst in den letzten Monaten des Jahres 2014, so mein Eindruck auf Grund von Gesprächen mit Doris, schien das wegzubrechen, zu bröckeln. Auch die Grünen, wie vor ihnen die SPD, passen sich Machtspielen, Machtverhältnissen an; am politischn Spiel mitzuwirken, macht “pragmatisch” und da helfen irgendwann auch keine freundschaftlichen Beziehungen zu einzelnen, die sensibel sind, mehr.
Das Schlimmste an der Entscheidung, in Essen zu bleiben –  war es das Zermürbende der Politik einer Stadt, die Doris zuerst mit ihrer Hände Arbeit eine Sanierung vollbringen ließ, die hervorragend war in ihrer Sorgfalt und fachlichen Perfektion, und die dann erkennen ließ, daß man sich nach kurzem schon das Ergebnis der Arbeit und der monetären Investition kompensationslos zueigen machen wollte? Offen gesagte: Doris lebte seit 1990 mit dem Gefühl, vielleicht “gelinkt” worden zu sein, als sie den “pro forma Vertrag” unterschrieb. UND DAS BEWAHRHEITETE SICH DANN, so denke ich, als sie von 2000 bis 2014, bis zu ihrer jüngsten Erkrankung, praktisch keine ruhige Minute mehr hatte, sondern nur noch den Kampf gegen Kämmerer und Liegenschaftsverwalter, die sie “raus” haben wollten, um ihre Räume zu vermieten oder um die Schule abzureißen und das Gelände zu “vermarkten”. 
Manchmal habe ich mich gefragt: wäre es nicht besser, befreiender, gewesen, zu gehen?
Aber wohin, ohne Geld? Und wohin, mit all ihren großformatigen Bildern, und ihrer überaus großen Bibliothek?
Etwas andres noch hatte große Auswirkungen auf ihre Existenz als Künstlerin: Es war die Tatsache, daß der monetäre Part ihrer Investition in die Sanierung ihr für Jahre die Möglichkeit raubte, im wünschenswerten Umfang neue Arbeiten als großformatige Kleinauflagen vorzufinanzieren. Sie war Künstlerin, aber sie war – angesichts dieser fehlenden Möglichkeit – nur noch eingeschränkt auf dem Kunstmarkt, für Käufer, und für Museen, präsent. Und ihr fehlte das Geld, das Künstler brauchen, um an Ausstellungen zu partizipieren.
Ich denke, es war diese – durch die Umstände erzwungene – Weichenstellung, die sie veranlaßte, sich als Künstlerin neu zu definieren: ihre Öffentlichkeitsarbeit – vertraglich seitens der Stadt von ihr verlangt – zu verstehen als “soziale Plastik.” Es war ihr erweiterter Kunstbegriff, der ihre Veranstaltungen mit Kindern, die Produktion eines mit Kinderzeichnungen illustrierten Buchs durch die Gruppe der Kinder aus der Nachbarschaft, die begeistert zu ihr kamen, ebenso mit einbeschloß wie Gruppen mit Hausfrauen, mit  Seniorinnen aus dem Viertel, oder auch ihren Einsatz für den Erhalt des alten Schulgebäudes als schützeswertes Baudenkmal.  Wenn schon Umnutzung, dann Umbau statt Abriß, war ihre Devise. 
Ihre Veranstaltungen unter dem Titel Personen – Projekte – Perspektiven brachten Künstler, Filmmacher, Philosophen, Kulturwissenschaftler, Linguisten, Diskurstheoretiker und Dichter in die Alte Schule, und es war immer ein lebhaftes, waches, fragendes, mitdenkendes und mitredendes Publikum, daß diese – zum  Teil  von weither kommenden –  Eingeladenen vorfanden, wenn sie über ihre Arbeit und ihre Fragestellungen, ihre Ziele sprachen. Oft dauerten die an die Vorstellung eines Werks, an einen Vortrag, eine Lesung etc. anschließenden Debatten, bei Brot und Wein, bis nach Mitternacht. Viele Künstlerinnen, viele Autoren reagierten hernach in Briefen und auf Karten an sie begeistert; viele kamen ein zweites, manche ein drittes Mal. Unter den Freunden, die sie so gewann, sollte ich nicht einige wenige hervorheben; ich tue es dennoch – nenne Harun Farocki, nenne Angelika Janz und Florian Neuner.
Wie lange ist es jetzt her – mehr als zwanzig Jahre schon, in der Phase des ersten Konflikts mit der Stadt, als sie mir erzählte von ihrer Brustoperation. Krebs. Ich werde den Verdacht nicht los, daß auch Streß – ständig und über lange Zeiträume – ein auslösender Faktor sein kann.
Von ihrer letzten Erkrankung erzählte sie nichts, offenbarte es Essener Freunden erst, als es nicht mehr verheimlicht werden konnte. Wenige Wochen vor Weihnachten sagte sie mir am Telefon, sie sei im Krankenhaus  gewesen; davor war die Rede gewesen von starker Erkältung, den Bronchien, der Befürchtung, es sei eine Lungenentzündung. Sie lebte von der Hand in den Mund; beantragte und bekam von der Stadt 1000 Euro pro Halbjahr für ihre Projekte und war verpflichtet, von ihrem kärglichen Geld dieselbe Summe dazu zu tun. Wie sie es geschafft hat, außer durch Beinahe-Verhungern, weiß ich nicht. Sie war schon lange so dünn, ihr Kühlschrank seit dreißig Jahren fast immer leer, wenn ich sie besuchte. Sie verausgabte sich, keine Frage. 
Klar: Für die Kunstproduktion, in ihrem Metier, fehlte ihr seit Jahren das Geld; um so mehr warf sie sich auf  die Kulturarbeit, es war jetzt das, was sie als notwendig erachtete, etwas, dem sie sich voll und ganz verschrieb.
Zuletzt sah ich sie, selber chronisch blank dank Minirente, nur noch selten. Wir blieben per Post,  auch email in Kontakt. Essener Freunde kümmerten sich dann um sie, als es zuende ging. Sie starb am Lungenkrebs, von dem sie uns nichts mehr gesagt hatte, des Nachts, in den frühen Stunden des 29. Januar 2015.

Vergessen wir nicht, welche Zeiten es sind, für die Menschen, die sich mühen. Die Mühseligen, die mit ihrer Last. Die Verkäuferinnen, die an der Kasse sitze, die in den Büros und Fabriken, die ausgepreßten. Die vielen Künstlerinnen und Künstlern, von denen man glaubt, daß sie der Kunst wegen von Luft und Liebe leben können, statt vom Brot.

(30.Jan. 2015, ca. 01.00 h früh; minimal ergänzt am Nachmittag)
 

* Recherchierend finde ich das Jahr 1979, dasselbe Jahr, in dem ich aus Taiwan zurückkehrte: zunächst (da arbeits-, mittel- und wohnungslos) zu den Eltern, 1980 nach Bochum. Peter, dem ich diesen Text schicke,  schreibt mir dann: Nein, es war 1978. Und die Trennung: schon 1984.
 


 
 
 

 

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