Andreas Weiland
“Ich erinner sie...” – Gedanken, aufgeschrieben, nachdem
ich von Doris Schöttler-Bolls Tod erfuhr
Als ich Doris zum ersten Mal sah, wußte ich nicht,
“das ist Doris.” Ich saß in einem Auditorium, einem, in dem ein Film
laufen würde, Eika Katappa. Ich hatte den Film gesehen, in Mannheim,
während der Filmwoche. Es war der einzige Film gewesen, der mich in
eine Art Trance, nämlich einen Zustand seltener Ruhe und Konzentriertheit
und des “Außerhalb von mir” und “Bei dem Film, in ihm Seins” versetzt
hatte, obwohl es zwei andere Filme gab, die mich zu Interventionen bewegten,
ein “Afrikanischer Western” von Ousmane Sembene und eine traumhafte Erzählung
einer Reise nach einem Macao der Imagination, die mich veranlaßt
hatte, Robert Beavers ausgiebig zu interviewen.
Eika Katappa war ein Poem, eine Offenbarung – klar strukturiert,
und zugleich wie jener Last Dance im soundtrack, eine mythologische Erzählung
von Liebe und Tod, Einsamkeit und Gruppe, Entfremdung im Kapitalismus und
Sehnsucht nach Befreiung. Zugleich – eine Hommage: an die italienische
Oper, an Maria Callas, an die populäre Kultur einer Zeit, die noch
nicht durchrationalisiert, quantifiziert, die noch lebendig war, wie vielleicht
eben nur Italien, das der Träume, Sehnsüchte, Zypressen und Zitronenbäume.
Doris war die kleine Rothaarige, die weit hinten, viele
Reihen weiter, saß – die “kleine freche Rothaarige”, als die sie
sich manchmal bezeichnete, wenn sie von ihrer Kindheit, ihrer Zeit in der
Volksschule, und von ihrem geliebten Großvater, ihrem kleinen Hund
sprach. Es war “Liebe auf den ersten Blick – also das, was die Amerikaner
(die NORD-Amerikaner) “infatuation” nennen: Faszination, ein Gespür
– vielleicht – für den Anderen, die Andere, sie, ihre Besonderheit.
Wir sind alle “besonders” – irgendwie – : aber da war der Funke,
der übersprang.
Sie kam von sich aus nach vorn, setzte sich zu mir, in
die erste Reihe: die immer bevorzugte, schon allein wegen der schlechten
Augen. Und während der Film lief, vermischten sich die Haare unserer
eng an einander gepreßten Köpfe, während ich halblaut,
leise, fast flüstern, kommentierte: die Schnitte, die Einstellungen,
die “Blöcke” (or parts), die den Film rhythmisierten. Vielleicht auch
– nein, vermutlich sogar mit Sicherheit – seine poetische und zugleich
realistische, von mir als klare, prägnante Gesellschaftskritik begriffene
Metaphorik.
Wolfram Schütte hat das auch– auf seine Weise –
sensibel und kritisch beleuchtet. Später? Wohl kaum. Vermutlich las
ich das bloß später, aus der Unistadt wieder einmal zur kurzen
Visite “nach Haus”, zu den Eltern fahrend, in der Frankfurter Rundschau...
Nach dem Film gingen wir, immer noch über den Film
sprechend, Seite an Seite durch die Nacht. Von der Uni, durch das Wäldchen,
an Studentenheimen vorbei, bis zur der Kneipe, oder ist Gastwirtschaft
der passendere Begriff, die im Bochumer Süden damals den Norden des
Uni- und studentischen Viertels markierte, und die, fast Berliner Assoziationen
aufrufend, wohl “Im Grunewald” hieß. Denn ein kleines Wäldchen
grenzte dicht an das alte Backsteinhaus, seinen Garten. Hier, stehen bleibend,
da ich – in eine Richtung deutend – sagte, Da unten wohne ich, machte sie
klar: Kein “Gehn wir zu dir, oder gehn wir zu mir.” Sie war, sagte sie,
verheiratet. Die Flamme erlosch, die der “infatuation.” So schnell kann
das geschehen. Später sagte sie manchmal, mit einem Lächeln,
“Die Lover kommen und gehn, aber die Freundschaften bleiben bestehen.”
Ein schöner Spruch. Ja, wir sind Freunde geblieben, bis zuletzt, bis
sie “ging”. Ja, und es ist vielleicht seltsam: der Wunsch, mir ihr zu schlafen,
ist seit jenem Abend nicht zurück gekommen – auch, weil ich auf Oriel
fixiert war, und seit Taiwan, auf eine andere Oriel – den verzaubernden
“Berg aus Jade”, mit Jade-Augen, die still und klar glänzten.
Ihren Mann, Peter, habe ich bald schon kennengelernt.
Spöttisch erschien er mir damals, ein selbstbewußter Linker,
gewiß jemand, der scharf nachdachte; er war schon oder wurde einige
Zeit später Althusser-Übersetzer, vielleicht sogar Althusser-Spezialist.
Jedenfalls dessen Positionen zugewandt. Ich plakatierte in der Uni surrealistische
Sprüche, und griff – auf meinen im Sozialwissenschaftlichen Institut
und bei den Germanisten hängenden Plakaten – einen Spruch anderer
Studenten auf, der mir gefiel: “Gott beschütze dieses Haus /
vor Schelsky und Claude Levi-Strauss.” Ohne religiös aufgewachsen
zu sein, war es mein Zeichen des Widerstands gegen das Starre, Nicht-Flüssige,
das Beharren auf der Synchronizität des Materials, der sich jede fundierte
Analyse bewußt sein müsse. Ein Assistent fragte damals vielleicht
in didaktischer Absicht, vielleicht neugierig: “Vor Althusser auch?” Ob
ich verunsichert war, weiß ich nicht mehr. Ich überlege zu viel
hin und her, es gibt zu viele Für und Wider im Kopf, um sofort Ja
oder Nein zu sagen. Aber instinktiv hätte ich sagen können: Ja,
vor Althusser auch. Lieber, ganz eklektisch, Korsch, Sartre, ein nicht
althusserianisch gelesener Gramsci, kein Lenin (damals jedenfalls nicht
– man lernt dazu), aber Rosa und Alexandra Kollontai. Und natürlich
– verrückt wie ich war oder wie ich erscheinen mußte – André
Breton, René Crevel, Filme wie “Eika Katappa.” Das galt als “verworren”:
diese Weite der Suche, die Affinität zu den Dichtern, den Künstlern,
die gegen den Strom schwammen statt beinahe mit ihm, wie Rilke und Benn.
Diese “Verrückheit” war es, die Peter spöttisch sein ließ,
während ich – seit jenem Moment, als wir, jeder für sich, an
jenem ersten Abend nach Hause gingen – ihr, Doris, Glück wünschte
in ihrer Ehe. Ja, ich war (blieb wohl) sehr straight; die Revolte war poetisch,
keine sexual revolution of sixty-eight. Das unterschied uns: Doris und
mich, Peter und mich. Peter, der so den Geruch der Essener Bourgeois-Familie
an sich hatte, als der Linke, nicht Sozialdemokrat, der er damals noch
war. Ich hatte zu früh, als Kind, die Glas Wasser Theorie am Küchentisch
sitzend gehört: daß Sexualität natürlich sei; man
trinkt, wenn man Durst hat. Es gibt keinen Grund für Schuldgefühle.
Ich wußte, als Kind, zu früh, daß die Realität anders
war, daß Eifersucht keine Chimäre, kein ideologisches Hirngespinst
war. Wenn sie falsches Bewußtsein spiegelte, saß sie doch zu
tief, in den liebenden Körpern. Die Kulturrevolutuon geschieht nicht
über Nacht, oder auf dem Papier, oder in Diskussionen. Auch die sexuelle
nicht. Vielleicht weil ich Permanenz, Dauer wünschte – nicht
nur die Permanenz der Revolution - liebte ich anders, wurde die Beziehung
zwischen Doris und mir auf andere Art permanent.
Wir haben uns – sage ich – im Bochumer Filmclub zum ersten
Mal gesehn: Das Jahr war das Jahr, in dem Werner Schroeter in Mannheim
den Preis bekam für den gerade fertig gestellten Film, Eika Katappa.
Die amour fou der ersten Begegnung, diese kurze, fast
momentartige Intensität verwandelte sich in etwas, das verläßlich
wurde, schon bald. Sie las die Bücher der Surrealisten bei mir. Ich
ihre Kunstbücher in ihrer Wohnung. Sie studierte nicht an der Bochumer
Uni, studierte in Essen bei Wamper – da noch, wie später bei Bobeck,
“spezialisiert” auf Plastik, auf Skulpturen? Ich war beeindruckt
von ihr, ihrer Lebendigkeit, ihrem Temperament, ihrer Neugier, ihrer Sensibilität.
Nicht oder noch nicht, von der Kunst, die sie schuf.
Sie war, damals, hörte ich später – in einer
linken Partei. Wurde herausgeworfen, ausgeschlossen, wie ihr Mann und andere
Freunde des Kreises Bochumer Althusserianer. Althusser – dafür war
die Partei zu bieder. So gab es Kritik für den guten Louis von zwei
Seiten: denen, die ihn als zu radikal sahen, richtigen “Deutschen” sozusagen,
die selbst als Gesellschaftsveränderer brav die Bahnsteigkarte kaufen
würden, und Leuten wie mir, die zu eklektizistisch waren: wohl auch
Sartre mochten, weniger den frühen, als vielmehr den Autor der Kritik
der dialektischen Vernunft. Jaeggi motivierte uns, das zu lesen.
Neben dem Herauswurf aus der Partei, der ihr gut tat,
gab es eine andere Krise für Doris: sie hatte zu tun mit Vorstellungen,
von denen sich linke Studenten nicht so schnell wirklich emanzipieren,
auch wenn sie skandieren, “Wer zweimal mit derselben pennt, gehört
schon zum Establishment.”
Damals, noch in der Partei, sagte mir Doris später,
gab es ein Tribunal, dessen Angeklagte sie war, und dessen Ankläger
die kleine Gruppe linker, althusserianischer Studenten in der Parteizelle.
Und es ging um Treue.
Es hat ihr wehgetan. Es war ein Verrat, in ihren Augen.
Sie wurde sehr krank. Als ich sie – wahrscheinlich außer Peter der
einzige – im Krankenhaus besuchte, ging es ihr miserabel. Damals
wußte oder ahnte ich: es war eine psychische Krise, aber ich wußte
nicht, warum. Das war auch besser so. Ob ich wirklich der einzige war,
der sich Sorgen machte, weiß ich natürlich nicht. Aber –
jedenfalls sagte sie das, viel später: “der einzige”...
Nachschauend, wann Werner Schroeters Film in Mannheim
prämiert wurde, lese ich: 1969. Also doch. Die Zeit um 1968, die Zeit
der Demonstrationen. Die Zeit, als ich den ersten Film von Jean-Marie Straub
und Danièle Huillet im Filmclub sah. Dann 1971 meine Arbeit über
Romane von Creeley, Douglas Woolf, Rumaker, Brautigan schrieb. Danach politisch
aktiv wurde: Verteilen von Flugblättern morgens am OPEL-Tor, meetings
des GOG Unterstützunghskomitees, Arbeit in der Stadtteilgruppe Laer.
Wir motivierten Familien zum Mieterstreik, in Laer. Ich motivierte die
Anderen in der Gruppe, für die Kinder in Laer eine Malgruppe zu machen,
und wir kauften Malstifte und Zeichenblöcke für die Kinder dort,
waren ein oder zweimal jede Woche dort, ermutigten sie zu malen, draußen,
auf dem Rasen vor den Wohnblocks. Brachten Cassettenrecorder mit, hörten
zusammen Musik, die den Kindern anscheinend gefiel. Es war schön.
Doris wohnte mit Peter in der Girondelle, im “Terrassenhaus”,
einer vielgeschossigen modernistischen “Wohnmaschine.” Sie initiierte dort
einen Mieterstreik, die kleine kämpferische Kunstakademie-Studentin,
die mindestens einen Kopf größer war als ich. Und auch
sie startete eine Malgruppe für die Kinder. 1970, nachdem sie das
Folkwang-Studium bei Bobeck in Essen abgeschlossen hatte, wechselte sie
zur Kunstakademie in Düsseldorf, und landete sehr schnell bei Beuys.
Er mochte sie, ermutigte, hatte Interesse für ihre Synthese von künstlerischer
Forschung, Suche nach neuen Wegen, auch im Rückgriff auf Ansätze
bei Schwitters, bei radikalen Künstlerinnen wie Hanna Höch und
bei Feministinnen wie Luce Irigaray, und gleichzeitiger, ganz konkreter
politischer Praxis. Machte sie nicht auch eine Ausstellung mit Bildern
der Malgruppe – gleich im “Terrassenhaus” an der Girondelle, und photographierte
das und zeigte Beuys die Bilder? Ja, solches “Zweihändig-Spielen”
(wobei beide Hände eine enge, organische Verbindung herzustellen wußten)
gefiel Beuys; was sie tat, kam seinen Vorstellungen von einer “sozialen
Plastik” nah – und vielleicht inspirierte sie solche Konzepte, durch das,
was sie um 1970-71 tat, sogar.
In diesen Jahren versuchte sie immer wieder, mich zum
Freudianer zu machen, empfahl psychoanalytische Literatur. Sie war darin
zuhause; ich weit weniger; mir kamen Freuds Kategorien zum Teil zu schematisch
vor und sein Ansatz erschien mir unhistorisch. Die ganze “Psycho-kack”-Rezeption
in studentischen Zirkeln schien nur das wiederzukäuen, was ich
– in grosso modo – zu wissen glaubte und was durch die Reich-Rezeption
zuhause “überholt” zu sein schien. Es war Sartres Weise, das Bewußtsein
zu explorieren und in einen Zusammenmhang zu stellen, die mich faszinierte,
und wie Sartre (und im Gegensatz zu den geschätzten Surrealisten)
bevorzugte auch ich den Begriff des “Vorbewußten” anstelle der Kategorie
des “Unbewußten”. Etwas konnte latent sein, verdrängt sein,
aber was “nicht bewußt” und auch nicht “vorbewußt” war, war
nicht da, im Seelischen: existierte einfach nicht, so sah ich das.
Die studentische linke Freud-Rezeption und vielleicht
Hoffungen auf Veränderung, auf Zerschlagung der einengenden –
sowohl in der Kindererziehung wie im Bezug auf die sexuellen Bedürfnisse
der Eheparner (und da besonders der Frauen) eher repressiven – bürgerlichen
Ehe mögen auch eine Motivation der Filmclub-Leute an der Bochumer
Uni gewesen sein, die dazu führte, daß man ein Porno-Film-Wochenende,
eine Filmschau am Freitag, Samstag und Sonntag, auf den Weg brachte. Später
sagte Doris immer, wir hätten uns dort kennengelernt. Der Witz ist,
daß ich mich genau erinner, daß ich damals Filme von Irm und
Ed Sommer sehen wollte, außerdem die Illiac Passion von Gregory Markopoulos
nochmal und einen Film von James Broughton, den ich als Poeten schätzte,
seinen Kurzfilm, The Bed, der mir im Gegensatz zu Irm und Eds Beiträgen
immer noch relativ klar und deutlich präsent ist. Filme (oder
doch einen Film) der Sommers hatte ich schon während des Ersten Internationalen
Treffens unabhängiger Filmmacher in München 1969 gesehen; ich
wollte meinen ursprünglichen Eindruck überprüfen; die anderen
Filme im Pornofilm-Programm des Filmclubs interessierten mich kaum, und
ich sah deshalb nur die Beiträge der Sommers, von Markopoulos und
von Broughton. Aber Doris – während dieses Pornofilm-Programms? Sie
sagte, sagte später, Ja, das war unsere erste Begegnung – und bei
mir, ein Blackout, wie Politiker sagen würden, wenn sie sich nicht
erinnern wollen. Aber ich wollte mich jedesmal erinnern, wenn sie sagte:
Da begegneten wir uns; da kreuzten sich die Wege zum ersten Mal. Keine
Erinnerung, wirklich. Neben ihr, dicht an sie gedrängt, den Eika Katappa-Film
sehend, zu ihr zu sprechen, über die ganze Länge dieses Films,
und zwar, nachdem mein Blick auf die Rothaarige im Publikum gefallen war:
das blieb lebendig.
Doris war ganz auf der “Freudschen Schiene” – zu sehr,
wie mir schien. Aber später, ihre Arbeiten, ihre Photo-Montagen/Collagen
– denn sie kombinierte beide Prinzipien oder Verfahren auf neue Art, das
der Collage und das der Montage – schienen mir tatsächlich aus dem
Un- oder Unterbewußten gespeist. Sie waren aus diesem Strom virulenter
Impulse und Wünsche, vielleicht auch verdeckter Trauer, verdeckter
Ängste – ans Licht getreten: nicht explosiv, wie Magma eines Vulkan,
sondern eher wie ein Licht, daß das Dunkel durchbricht und einen
Ausschnitt des Sein sehr tief und vielschichtig sichtbar macht. Es waren
Visionen, von etwas, das sehr verwurzelt war in dem Leben von Menschen,
auch der Frau, die sie war. In manchen Arbeiten konnte man Spuren der Geschichte
entdecken, und des Erschreckens, über diese Geschichte.
Mit der Arbeiten an Skulpturen war nach der Folkwang-Zeit
Schluß gewesen; ja – es war noch in ihrer Bochumer Wohnung, daß
ich die ersten Collagen und die ersten Photomontagen von ihr sah. Ihre
Arbeitsweise war zärtlich, unglaublich vorsichtig, nicht brutal, wenn
sie Bildmaterial zerschnitt und neu zusammenfügte. Ihre Kombinationen,
gespeist aus einer Imagination, die für das Überraschende offen
war. Immer aber kam ihr kritischer Geist, ihr Wissen um die Verhältnisse
und ihre Gewalt, ihre Zwänge, immer ihre Sehnsucht ins Spiel.
1974 trennten sich unsere
Wege, die Begegnungen, der Austausch, das sprechen über ihre Bilder,
über meine Gedichte; sie ging mit Peter nach Paris, ich bald darauf
nach Taiwan. In Paris traf sie Pierre Macherey, Etienne Balibar, Althusser,
Derrida. Später zeigte sie mir den Brief, in dem Derrida ihr
(anscheinend in den späten 1970er oder frühen 80er Jahren) schrieb,
ihre Bilder hätten ihn sehr berührt, “da sie wunderschön
sind und viel zu denken geben.” Derrida – mit dem Peter ebenso wie mit
Althusser und den anderen dieses Kreises als Übersetzer in Kontakt
stand – hatte sie schon, ihre Ankunft in Paris annoncierend, vor ihrem
Aufbruch nach Frankreich geschrieben, daß sie sich veranlaßt
gesehen habe, sein Konzept der Dekonstruktion “zu entwenden”, weil es ihr
als reduktionistisch erscheinen würde, bei ihren Arbeiten nur von
Collage und Montage zu sprechen. Dem dialektisch begriffenen Konzept der
De/Konstruktion blieb sie – all meinen Einwänden zum Trotz – bis zu
ihrem Lebensende treu; ich bin aber überzegt, daß sie den Begriff
auf etwas andere, dem spezifischen Entstehungsprozeß ihrer künstlerischen
Arbeiten, mithin ihrer Arbeitsweise, sehr nah kommende Weise gebraucht
hat. Er schien ihr da das Wesentliche zu treffen.
Ich bin nicht sicher, wann Peter und sie aus Paris fortgingen
– nach Bremen, wo Peter einen Job an der Uni bekam und Doris einen Lehrauftrag.*
Da war sie bereits freie, oder freischaffende Künstlerin – immer noch
frei wie ein Vogel, immer noch und immer mehr, schaffend, und die Freiheit
der schaffenden Künstlerin drückte sich dadurch aus, daß
sie nicht davon leben konnte. Ohne Peters Gehalt ging nichts; das Geld,
das sie für den Lehrauftrag bekam, reichte nicht einmal, um einen
Teil der Produktionskosten ihrer PhotoCollagen/Montagen zu bezahlen.
In Bremen fand sie, als engagierte Frau, Feministin und
Künstlerin, Frauen in ihren Kursen, die sich begeistern ließen,
die interessiert waren an kritischen Fragestellungen, an der eigenen beginnenden
künstlerischen Praxis und an Theorie, und zwar nicht nur “Kunsttheorie”,
eher ging es um die Verzahnung von Kunst und Leben (wie bei Beuys), Kunst
und Gesellschaft, wie bei Autoren solcher Zeitschriften wie Das Argument.
Ließ auch die von Konrad Boehmer in Amsterdam herausgegebene Zeitschrift
grüßen? Mag sein. Die von ihr kuratierte Ausstellung “Haare,
oder Spurensuche des Weiblichen” zeigte eigene Arbeiten, aber vor allem
Arbeiten der Kursteilnehmerinnen. Brisant war Anfang der 1980er Jahre auch
ihre Ausstellung “Photoalbum, Porträtphotographie, Polizeiphotographie”
(1980), die vermutlich von einer intensiven Foucault-Rezeption inspiriert
war.
Das Jahr 1985 markiert eine Wende in ihrem Leben: die
Trennung von Peter, die von ihr ausging – auch weil Peter anscheinend mit
ihrer Weise, Treue zu ihm zu leben, ihn gern zu haben, sogar sehr innig,
aber doch ihre sexuellen Bedürfnisse nicht zu unterdrücken –
vielleicht nicht so umgehen konnte, wie sie es erhofft und gewünscht
hatte. Sie wollte keine Eifersucht, schon gar nicht gepaart mit den Extremen
der gezeigten Verwundbarkeit, Anhänglichkeit, und der Aggression –
so jedenfalls habe ich sie, viel später, als alles längst “Geschichte”
war, verstanden. Es scheint wahr zu sein: neue Verhältnisse
existieren nicht; unter den alten sozialisiert, auf neue Weise zu leben,
gelingt noch nicht oder den wenigstens. Wir irren herum wie Verlorene,
pendelnd zwischen Bedürfnissen konträrer Art – dem nach
emotionaler Sicherheit, und dem nach grenzenloser, unbevormundeter Freiheit.
Sie, Doris, hat die Freiheit gewählt: den bitteren, steinigen, schmalen
Pfad, der extremen materiellen Unsicherheit, als Künstlerin und als
Frau.
1985 war auch das Jahr, in dem sie Bremen verließ:
Ein Aufenthalt als artist in residence in einer kleinen Wohnung nebst Atelier
– im der Stadt Essen gehörenden Schloß Borbeck –
war der Anlaß, nein, der Grund, neu zu beginnen. Es war zugleich
das Jahr ihres “großen Durchbruchs” (so konnte es erscheinen) als
nicht mehr nur in Museen wie der Bremer Weserburg (während ihres Bremen-Aufenthalts)
ausgestellte, von der Kritik nunmehr tatsächlich wahrgenommene Künstlerin.
Den Beginn machte die große Einzelausstellung im Landesmuseum Bonn,
kuratiert von Klaus Honnef, Experte unter den Ausstellungsmachern,
für Photographie und verwandte Bereiche; es folgten im selben Jahr
die Einzelausstellung im Clemens-Sels Museum in Neuss, und die Einzelausstellung
im Museum Bochum,
Die Galerien, die Käufer ließen auf sich warten.
Sie lebte mehr schlecht als recht von ihrer Arbeit, und ich weiß,
wie viel Arbeit es war, nicht nur in ihrem Atelier – sondern dann auch
in den großen Foto-Reproduktionsanstalten, wo sie die Produktion
kleiner Auflagen sehr großformatiger Arbeiten minutiös und ständig
mit dabei seiend überwachte. Doch nein, das, war sie tat, trifft der
Begriff überwachen gar nicht; es war vielmehr so, daß sie,
sensibel mit den Fachleuten dort zusammenarbeitend, die Arbeit begleitete,
versuchsweise hergestellte Reproduktionen begutachtete, verwarf, sehr viel
lernte und auch Wissen vermittelte, über das, was beitrug zur Rettung
der Farbnuancierung des Originals und der Bewahrung der photographischen
Effekte – etwa der Solarisation – auf die es ihr jeweils ankam. Die Rechnungen
für die Herstellung dieser kleinen Auflagen waren – in ihren und auch
in meinen Augen, am jeweiligen Einkommen gemessen – horrende. Es war die
Schere, zwischen Einkommen und Produktionskosten, die ihr auf Sicht, blieb
die entsprechend zahlungskräftige Nachfrage aus, den Hals brechen
mußte. Dichterfreunde, Autoren kauften – bewegt von der Kraft ihrer
Arbeiten – manches von dem, was unter ihren Händen entstand. D.E.
Sattlers Eulogie (oder vielmehr seine klugen, kritischen Anmerkungen zu
ihren Arbeiten), das haftet in meinem Gedächtnis, doch auch, daß
er sie – in einem Text wohl – die “Königin von Saba” nannte. Ja, sie
hatte etwas von einer Königin, auch von einer verruchten Rothaarigen,
deren Anblick die Bauarbeiter zu Zoten veranlaßte, als sie mich –
das war viel später – in den 90er Jahren – in der norddeutschen
Provinz besuchte. Nein, sie sah nicht aus wie die “Muttis” der Arbeiter
in der Provinz. Eher “Königin von Saba” mit langer Zigarettenspitze.
Das provozierte manche. Daß Sattler, daß Derrida, daß
Urs Jaeggi, Jürgen Link, Klaus Honnef, Hiekisch-Picard und eine ganze
Reihe kluger Frauen (darunter Marianne Schuller) viel von ihrer Kunst hielten,
daß es innovativ war, sensibel, poetisch, kritisch, erschwerte die
Rezeption. Auch die evozierten Erinnerungen, etwa an Koffer, die
übrig blieben, wenn Menschen für immer verschwanden im Rauch,
oder an die deutschen Farben mit der glutroten Asche der Krematorien
und dem Gold der Deutschen und Dresdner Bank, dem Schwarz Kleistscher und
ihrer Trauer – das verstörte. Das lockte die Kunden nicht.
Die Galeristen waren, eingeladen in ihr Studio, noch
nicht einmal bereit, vorbeizukommen – und sie zu empfindsam, um sich ihnen
anzudienen: wie ein Bittsteller, mit Arbeiten unter dem Arm, bei ihnen
zu erscheinen.
In einem Buch von Francis Ponge, daß sie mir –
vermutlich war's in den frühen 70er Jahren – schenkte, lese ich Sätze
wie diesen, daß die Künstler oder, besser noch, “Schöpfer
(die, denen man diesen Namen gibt) diejenigen seien, “denen es schwerfällt,
in die Welt einzudringen, und die eine große Beharrlichkeit und Kraft
besitzen, es zu tun: sie bringen das Getriebe zum Knirschen und lenken
damit die Aufmerksamkeit auf sich, sie rufen zuerst Verärgerung und
Zorn hervor und entstellen das Ganze auf so heillose Art, daß die
Welt sich ihnen anpassen muß.” Ja, auf ihre Weise hat Doris
wie lange vor ihr Hanna Höch unsere Perzeption der Wirklichkeit entstellt:
sie hat sie – wenn auch nicht brechtisch, sondern beeinflußt vom
Surrealismus, ein Stück weit auch in Kombination mit formalen Anklängen
an comic-artige Werke der US-amerikanischen Pop Art (etwa in ihrer Arbeit
“Wildnis” (1985)) – “verfremdet”. Das Echo war unter Kollegen zwiespältig;
bei einer Reihe von Kunstkritikern positiv; das große Publikum jedoch
bekam – sieht man von den aufgeschlossenen “kleinen Leuten” in der unmittelbaren
Nachbarschaft ihres Anfang der 90er Jahre bezogenen Ateliers einmal
ab – ihre Arbeiten kaum zu sehen. Das blieb so, trotz der Einzelausstellungen
in Bonn, in Neuss, und im Museum Bochum, wo Sepp Hiekisch-Picard große
Stücke auf sie hielt und sie auch einlud, an der Ausstellung “Wo bleibst
du, Revolution?” (zum 200. Jahrestag des Ausbruchs der Französischen
Revolution [1989] ) teilzunehmen.
Eine schon alte, jedoch sensible Lokalreporterin nahm
Doris und ihre Kunstwerke im Essen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre
wirklich wahr. Darüber hinaus vor allem der damalige Kulturdezernent,
Oliver Scheidt, und der Architekt Werner Ruhnau – zwei Menschen vor
Ort, die zu ihr standen und mit denen sie bald eine herzliche Freundschaft
verband. Ruhnau, der mit Yves Klein bei der Gestaltung des Gelsenkirchener
Musiktheaters zusammengearbeitet hatte, schätzte sie so sehr, daß
er sie 1995 enlud, an der Gestaltung des Umbaus des Essener Grillo-Theaters
mitzuwirken: sie schuf ein Ensemble von Photocollagen/-montagen im südlichen
Foyer-Teil über dem Eingang zum Theatersaal, daß sie “Durchqueren
– für Büchner und Kleist” nannte: es war ein Durchqueren
von Bildern, eingebrannt in ihr Innerstes, der deutschen Geschichte –
Bilder im Kopf, die begannen bei den Traumata des 1811 durch Selbstmord
34jährig gestorbenen Dichters, und die über Woyzeck, den Hessischen
Landboten und die Verfolgung eines revolutionären Dichters der Vormärz-Zeit
nach Auschwitz führten und zum goldenen Wirtschaftswunder im alles
verdrängenden Mutter- und Vaterland, Land der Geburt. Sie sah das
Bildensemble wie eine écriture, eine Schrift, zerrissen und zuckend,
an der Wand des Theaters – und es war wohl kein Wunder, daß die Stadt
Essen, aus Anlaß eines Intendantenwechsels, das Bildensemble später
entfernte, in Kellerräumlichkeiten verschwinden ließ, und erst
nach heftiger, anscheinend mehrfacher Intervention Werner Ruhnaus – eine,
wie mir scheint, fadenscheinige Begründung des Entfernens vorbringend
– erneut an der alten Stelle über der Tür anbrachte. Schon bei
der Einweihung hatte jemand, auf einen Text im Katalog sich beziehend,
der auf drei als Kriegsverbrecher verurteilte Häupter großindustrieller
Dynastien von Stahlbaronen anspielte (auf das Ungeheuer, das mythische:
die Kruthyröchs), Doris unverblümt gefragt: “Sind sie Kommunistin?”
Nein: sie hatte die Nase voll von Parteien – von allen. Vielleicht: wenn
kritische Solidaritität mit den vom Kapital Ausgebeuteten (deren Existenz
– wie unser aller Existenz – eine entfremdete ist, und deren Bewußtsein
heute oft weit entfernt davon scheint, wirklich wach und kritisch zu sein)
jetzt das Wort, das zum Schimpfwort wurde, verdient. Sie wollte verändernd
wirken, und tat es konkret, vor Ort, als Bürgerin und Künstlerin.
Die Welt, wie sie ist, wie sie noch ist, unsere Verhältnisse hier:
das war es nicht, was bleiben sollte, wie es ist.
1982 war ich wegen einem Job an der Uni nach Aachen
gegangen, aber oft, wenn ich auf der Reise aus Ostwestfalen (wo der verwitwete
Vater wohnte) nach Aachen durch “ihren Ort” im Ruhrgebiet kam, besuchte
ich sie im Schloß, seit sie dort, im Norden von Essen, als artist
in residence lebte. Sah ihre Arbeiten. Hörte ihr zu. Sie sprach gern,
ist lebhaft im Sprechen, so immer noch, in der Erinnerung. Manchmal las
sie eine ganze Nacht lang aus einem Buch, das sie liebte, das sie bewegte,
mir vor. Es waren schöne, innige Momente der Nähe. Die Lover
kommen, gehen – aber etwas, eine solche Freundschaft, bleibt.
Sie besuchte mich in Aachen, hin und wieder. Einmal sagte
sie mir: ich kenne hier, in der Nähe, in der Ottostraße, einen
interessanten Maler. Er ist Kanadier, Angelo Evelyn – Du muß ihn
kennenlernen. Und wir besuchten gemeinsam sein Atelier. Oft trafen wir
uns mit Haluk und Peter Klein, der auf so wunderbare Weise seine Buchhandlung
Backhaus – die interessanteste weit und breit – finanziell am Überleben
hielt (was sein Erbe aufzehrte), sowie einigen Kunsthistorikern, die zu
ihrem Freundeskreis gehörten, im Labyrinth – Myrtos griechischem Restaurant
– und führten lange Debatten bis tief in die Nacht. Doris erinnerte
auch oft daran, wie wir einmal, weil Wäsche zu waschen war, die halbe
Nacht im Waschsalon Mississippi an der Jülicher Straße saßen:
es wurde eine weitere öffentliche Lesung, denn sie hatte mich gebeten,
Texte mitzunehmen, ihr Gedichte vorzulesen, was ich tat. So saßen
wir nebeneinander im spärlich beleuchteten Waschsalon, den Rücken
zum Fenster, und ich las ihr vor, während manche der anderen mithörten.
In den achtziger Jahren war es wohl auch, daß die
Straubs eine kleine Werkschau in einem Bochumer Kino hatten; Leute vom
Theater, der Intendant wahrscheinlich, hatten es organisiert, und Jean-Marie
schrieb mir, um es mir mitzuteilen. Also kam ich von Aachen nach Essen
und fuhr dann mit Doris nach Bochum. Danièle erhielt einen große
Blumenstrauß, entweder bei der Einführung oder – wahrscheinlicher
– zum Ende der Veranstaltung, und als wir vier dann danach vor dem Kino
auf der Straße standen, gab sie Doris mit sehr herzlicher Geste den
Blumenstrauß. Es war ein Zeichen der Nähe, vielleicht, des Funkens,
der so oft zwischen Doris und anderen Künstlern, Filmmachern, Literaten
übersprang.
Anfang 1989 lud Doris mich ein, mit nachzudenken über
eine Ausstellung, die sie kuratieren würde; sie sollte in der Galerie
von Schloß Borbeck stattfinden; Oliver Scheidt hatte grünes
Licht gegeben; die Mittel waren schon bewilligt.
Sie hatte eine ganze Reihe guter Künstler im Visier,
die sie inladen wollte, darunter Nan Hoover, Nobert Schwontkowski, Harald
Falkenhagen, Toto Frima. Timm Ulrichs und einige andere. Auch Angelo Evelyn.
Ich schlug auch Tony Morgan vor, dessen Arbeiten ich sehr mochte. Das Konzept
war klar: Künstlerinnen und Künstler mit ähnlichen Sujets,
Fragestellungen, oder Forschungsinteressen sollten jeweils als Paar für
eine Zeit von vielleicht drei Wochen ausstellen, bevor das nächste
Paar dran war. Das Publikum sollte, und auch sie wollte entdecken können,
ob die Realisationsweise der Arbeiten spezifisch männliche bzw. spezifisch
weibliche Merkmale aufweist. Der Titel Unter einem Himmel rekurrierte auf
den chinesischen Ausdruck, die Frauen seien die Hälfte des Himmels.
Er betonte die Spezifizität jeder Hälfte, aber auch die
Einheit, das Verbindende, das Existieren in denselben Verhältnissen,
derselben Welt, und das Verlangen nach einander, das gegenseitige Angewiesensein
auf einander, auch auf Solidarität. Gemeinsam, hieß das, für
Befreiung “kämpfen” – mit und in Bildern, manchmal in Worten, mit
Taten. Gemeinsam, nicht gegen einander. Es gab viele Zuschauer. Noch
schöner: Menschen wie Nan Hoover, Eu Nim Ro, Harald Falkenhagen, Norbert
Schwontkowski, oder Timm Ulrichs mochten Doris. Sie schätzten vieles
an ihr – ihre Sensibilität, ihre Klugheit: sie nahmen sie als Kuratorin
und als Kollegin ernst. Und Sympathie war im Spiel. Zu Timm Ulrich entstand
eine innige Freundschadt, auch zu Tony Morgan. Es war eine gute Ausstellung;
es gab auch eine passable Pressemappe, danach. Die Ordner, zur Ausstellung,
die bei der Stadt Essen landeten, waren von erheblichem Umfang. Als Doris
Jahre später danach fragte, waren sie offenbar “entsorgt” – ein Zeugnis,
das ein Moment der Kulturgeschichte beleuchtet, aus dem Weg geräumt.
Aber das war in der Zeit der Konflikte zwischen Doris und der Stadt, soweit
hier der Kämmerer und die “Immobilienwitschaft” als separates Ressort
zu Wort kamen.
Als 1989 der mietfreie Aufenthalt auf Schloß Borbeck,
also das “Artist in residence”-Stipendium auslief, war dem Kulturbüro
der Stadt daran gelegen, die Künstlerin, die große Einzelausstellungen
gehabt hatte und die eine viel beachtete Ausstellung in der städtischen
Galerie von Schloß Borbeck konzipiert und kuratiert hatte, in Essen
zu halten. Essen ist im Norden in weiten Bereichen eine arme, und im Süden
eine reiche Stadt – eine Stadt, die aus zwei Städten besteht, einer
bourgeoisen und einer proletarischen Stadt. Es ist auch eine Stadt, in
der das Geld dominiert und die Industrie, will sagen, Finanz- und Industriekapital.
Die Arbeit der Arbeiter zählt, kann man sie verwerten. Die Kunst und
die Literatur zählen – wie so oft – nur am Rande; das Theater, selbst
wenn die Schauspieldirektoren Format haben, wird nur goutiert, wie ein
Ornament des bürgerlichen Lebens; nicht von allen, aber von vielen,
die es dahin zieht; und die Politiker finanzieren es, weil sie es ihrer
Klientel, ihrer Bourgeoisie schulden. Das Kritische und das Formal-Innovative
des Theaters, wenn es in Erscheinung tritt, ist dieser Politik und dieser
Klientel oft fremd und verdächtig. Manchmal wird es mißverstanden,
manchmal ist es geduldeter side effect der Unterhaltung, die man begehrt.
Es ist kein Wunder, daß gute Künstler aus Essen “flohen”,
auch ein sensibler, kluger, kritischer Dichter wie Nicolas Born. Essens
Provinzpresse hat für solche Menschen weder Kopf noch Herz und auch
nur wenig Platz im Feuilleton. Doris, die vor ihrer Bochumer Zeit mit Peter
in Essen lebte, die den Essener Bourgeoissohn Peter als junges Mädchen,
junge Frau – übrigens in zweiter Ehe, nach der mit Wiesenthal – heiratete,
hätte es wissen müssen. Daß ihre Mutter in Essen lebte,
und daß die Rückkehr nach Bremen, in die Stadt also, in der
ihr immer die Künstlerförderung und auch sonst viel Unterstützung
zuteil geworden war, nach der Trennung von Peter unmöglich schien
– : machte das jenes Angebot einer Atelierwohnung in Essen-Steele so verlockend?
Nach dem Auslaufen des Atelieraufenthalts im Schloß war sie ja im
Prinzip auf einen Schlag wohnungslos. Und über reiche Mittel aus Bilderverkäufen
verfügte sie wohl kaum.
Die Alte Schule in Essen-Steele war 1989 eines von verschiedenen
Atelierhäusern, welche ein fortschrittliches kulturpolitisches Programm
in den Stadtteilen geschaffen hatte. Der fortschrittliche Ansatz der Strategie
enthüllte sich auch darin, daß Künstler, die mietfrei Studios
angeboten bekamen (mit der Verpflichtug, die Nebenkosten für Strom
und Wasser zu zahlen), die Auflage erhielten, Öffentlichkeitsarbeit
zu machen, also auf die Bürger im Viertel zuzugehen, sie für
Kunst zu interessieren, ihnen – in einem von ihnen selbst zu steckenden
Rahmen und Umfang – die Ateliers zu öffnen, und so weiter. Das gefiel
Doris. Entsprach ihrem Verständnis von den Aufgaben der Kunst und
des Künstlers, von der erstrebenswerten Einheit von “Kunst und Leben”,
von künstlerischer Produktion als Teil des lebendigen Lebens, und
ihrem notwendigen Bezug auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
und naturhaften, natürlichen Seins.
Ein Schock war die Besichtigung der für sie vorgesehenen
Räume im Dachgeschoß der “Alten Schule” im Essener Stadtteil
Steele (der Rest der Schule, bis auf gemeinschaftlich zu nutzende
Flächen wie Treppenhaus, Toiletten, Keller, war dem Bildhauer Lungwitz
“unbefristet” überlassen). Die Räume waren die Hausmeisterwohnung
unterm Dach gewesen, zum Teil vor Jahren mit inzwischen als gefährlich
erkannten Baustoffen abgedichtet. Es gab kein Badezimmer, keine Badewanne.
Die Fenster waren in katastrophalem Zustand. Die Fußböden: beschädigt.
Die Isolation zum Dach hin, unzureichend. Hohe Räume, aber schlechter
Zuschnitt, oft schräge Decken – denn es war eben Dachgeschoß,
auch wenn es bei der beträchtlichen Höhe des Schuldachs noch
einen kleinen Speicher über der Dachgeschoßwohnung gab.
Ich habe das alles im Herbst 1989 gesehen, als Doris
noch im Schloß wohnte, aber bereits mit der Sanierung begann. Denn
das war der Pferdefuß: zwar kam man ihr entgegen, indem man erlaubte,
daß sie die Räumlichkeiten nicht nur als Atelier, sondern auch
als Wohnung benutzen durfte. Ebenso bekam sie in einem Schreiben des Kulturbüros,
daß die Vergabebedingungen auflistete, mitgeteilt, daß es eine
unbefristete Vergabe auf Nebenkostenbasis, ansonsten eben mietfrei, sei.
Aber: Sie müsse die Sanierung auf eigene Kosten stemmen.
Wie hat man sie eigentlich eingeschätzt, als welchen
Krösus? Für was hält man Künstler, wenn sie ihren ersten
großen Erfolg, auf Grund wichtiger Einzelausstellungen hatten? In
den nächsten Jahren habe ich Doris oft auf der Durchreise besucht,
und sie immer in staubigem Arbeitszeug beim Abschmirgeln von Türen,
beim Reparieren von Treppengeländern, beim Ausbessern, nein Ersetzen
der Bohlen der Fußböden, beim Streichen und Lackieren – mithin
in handwerkliche Arbeit vertieft vorgefunden. Ab und zu waren auch Handwerker
da, doch das meiste – die wirkliche Last – ruhte auf ihren Schultern. Sie
steckte ihre Ersparnisse, und die Gelder, die durch Bilderverkäufer
reinkamen, in die Sanierung und lebte von der Hand in den Mund. Lebte sie
vor allem von Zigaretten? Die Belastung durch das, was ihr aufgebürdet
war mit der Verpflichtung zu sanieren, wurde nur aufgewogen durch die Befriedigung,
die gut gemachte, selbst getane Arbeit erzeugt. Sie wollte nach denkmalpflegerischen
Gesichtspunkten sanieren, penibel, sensibel. Sie kaufte teure Öle,
um die neuen Fußbodenbohlen im natürlichen Farbton des Holzes
zu bewahren, aber zugleich gut zu schützen. Sie benutze gute Farben
“mit dem blauen Engel” – keine, die riskant sind.
Nach drei oder vier Monaten Sanierung, Anfang 1990, erhielt
sie ein Schreiben, nicht vom Kulturbüro, sondern von der für
städtische Immobilien zuständigen Abteilung, mit einem Mietvertrag
über zehn Jahre, den sie unterschreiben sollte, und einer darin genannten
Mietsumme. Das Kulturbüro beruhigte sie: das sei nur pro forma, falls
sie ausziehe, irgendwann und Geld für die geleistete Restaurierung
von der Stadt fordern würde. Mit ungutem Gefühl unterschrieb
sie. Dann wohnte sie zehn Jahre mietfrei, bekam – ich denke – wohl im Jahr
2000 eine Mietforderung, die ihre Möglichkeiten überstiegen hätte,
auf den Tisch geknallt und erfuhr, inoffiziell wohl, daß die Stadt
Interesse hatte, das Schulgebäude zu verkaufen. Lungwitz war schon
tot, die Stadt hatte von den Söhnen schon längst die Entfernung
seiner Skulpturen aus der Schule und dem Schulgarten verlangt. Jetzt “störte”
nur noch sie. Den ersten Streit mit der Stadt gewann sie durch Ausdauer,
gute Argumente, aber es waren zehn weitere zermürbende Jahre; den
zweiten Anlauf unternahm die Stadt wenige Jahre vor ihrem Tod; Doris gewann
den Prozess (war es nicht wegen einer fristlosen Kündigung, frage
ich mich jetzt), und kaum war er gewonnen, flatterte eine Kündigung
für – ich glaube, November 2014, auf ihren Tisch.
Ja, das Kulturbüro und das Museum standen hinter
ihr, aber wie war schon deren Macht (und um die geht es hier) in der städtischen
Administration... Die Grünen standen fast bis zum Schluß hinter
ihr; erst in den letzten Monaten des Jahres 2014, so mein Eindruck auf
Grund von Gesprächen mit Doris, schien das wegzubrechen, zu bröckeln.
Auch die Grünen, wie vor ihnen die SPD, passen sich Machtspielen,
Machtverhältnissen an; am politischn Spiel mitzuwirken, macht “pragmatisch”
und da helfen irgendwann auch keine freundschaftlichen Beziehungen zu einzelnen,
die sensibel sind, mehr.
Das Schlimmste an der Entscheidung, in Essen zu bleiben
– war es das Zermürbende der Politik einer Stadt, die Doris
zuerst mit ihrer Hände Arbeit eine Sanierung vollbringen ließ,
die hervorragend war in ihrer Sorgfalt und fachlichen Perfektion, und die
dann erkennen ließ, daß man sich nach kurzem schon das Ergebnis
der Arbeit und der monetären Investition kompensationslos zueigen
machen wollte? Offen gesagte: Doris lebte seit 1990 mit dem Gefühl,
vielleicht “gelinkt” worden zu sein, als sie den “pro forma Vertrag” unterschrieb.
UND DAS BEWAHRHEITETE SICH DANN, so denke ich, als sie von 2000 bis 2014,
bis zu ihrer jüngsten Erkrankung, praktisch keine ruhige Minute mehr
hatte, sondern nur noch den Kampf gegen Kämmerer und Liegenschaftsverwalter,
die sie “raus” haben wollten, um ihre Räume zu vermieten oder um die
Schule abzureißen und das Gelände zu “vermarkten”.
Manchmal habe ich mich gefragt: wäre es nicht besser,
befreiender, gewesen, zu gehen?
Aber wohin, ohne Geld? Und wohin, mit all ihren großformatigen
Bildern, und ihrer überaus großen Bibliothek?
Etwas andres noch hatte große Auswirkungen auf
ihre Existenz als Künstlerin: Es war die Tatsache, daß der monetäre
Part ihrer Investition in die Sanierung ihr für Jahre die Möglichkeit
raubte, im wünschenswerten Umfang neue Arbeiten als großformatige
Kleinauflagen vorzufinanzieren. Sie war Künstlerin, aber sie war –
angesichts dieser fehlenden Möglichkeit – nur noch eingeschränkt
auf dem Kunstmarkt, für Käufer, und für Museen, präsent.
Und ihr fehlte das Geld, das Künstler brauchen, um an Ausstellungen
zu partizipieren.
Ich denke, es war diese – durch die Umstände erzwungene
– Weichenstellung, die sie veranlaßte, sich als Künstlerin neu
zu definieren: ihre Öffentlichkeitsarbeit – vertraglich seitens der
Stadt von ihr verlangt – zu verstehen als “soziale Plastik.” Es war ihr
erweiterter Kunstbegriff, der ihre Veranstaltungen mit Kindern, die Produktion
eines mit Kinderzeichnungen illustrierten Buchs durch die Gruppe der Kinder
aus der Nachbarschaft, die begeistert zu ihr kamen, ebenso mit einbeschloß
wie Gruppen mit Hausfrauen, mit Seniorinnen aus dem Viertel, oder
auch ihren Einsatz für den Erhalt des alten Schulgebäudes als
schützeswertes Baudenkmal. Wenn schon Umnutzung, dann Umbau
statt Abriß, war ihre Devise.
Ihre Veranstaltungen unter dem Titel Personen – Projekte
– Perspektiven brachten Künstler, Filmmacher, Philosophen, Kulturwissenschaftler,
Linguisten, Diskurstheoretiker und Dichter in die Alte Schule, und es war
immer ein lebhaftes, waches, fragendes, mitdenkendes und mitredendes Publikum,
daß diese – zum Teil von weither kommenden – Eingeladenen
vorfanden, wenn sie über ihre Arbeit und ihre Fragestellungen, ihre
Ziele sprachen. Oft dauerten die an die Vorstellung eines Werks, an einen
Vortrag, eine Lesung etc. anschließenden Debatten, bei Brot und Wein,
bis nach Mitternacht. Viele Künstlerinnen, viele Autoren reagierten
hernach in Briefen und auf Karten an sie begeistert; viele kamen ein zweites,
manche ein drittes Mal. Unter den Freunden, die sie so gewann, sollte ich
nicht einige wenige hervorheben; ich tue es dennoch – nenne Harun Farocki,
nenne Angelika Janz und Florian Neuner.
Wie lange ist es jetzt her – mehr als zwanzig Jahre schon,
in der Phase des ersten Konflikts mit der Stadt, als sie mir erzählte
von ihrer Brustoperation. Krebs. Ich werde den Verdacht nicht los, daß
auch Streß – ständig und über lange Zeiträume – ein
auslösender Faktor sein kann.
Von ihrer letzten Erkrankung erzählte sie nichts,
offenbarte es Essener Freunden erst, als es nicht mehr verheimlicht werden
konnte. Wenige Wochen vor Weihnachten sagte sie mir am Telefon, sie sei
im Krankenhaus gewesen; davor war die Rede gewesen von starker Erkältung,
den Bronchien, der Befürchtung, es sei eine Lungenentzündung.
Sie lebte von der Hand in den Mund; beantragte und bekam von der Stadt
1000 Euro pro Halbjahr für ihre Projekte und war verpflichtet, von
ihrem kärglichen Geld dieselbe Summe dazu zu tun. Wie sie es geschafft
hat, außer durch Beinahe-Verhungern, weiß ich nicht. Sie war
schon lange so dünn, ihr Kühlschrank seit dreißig Jahren
fast immer leer, wenn ich sie besuchte. Sie verausgabte sich, keine Frage.
Klar: Für die Kunstproduktion, in ihrem Metier,
fehlte ihr seit Jahren das Geld; um so mehr warf sie sich auf die
Kulturarbeit, es war jetzt das, was sie als notwendig erachtete, etwas,
dem sie sich voll und ganz verschrieb.
Zuletzt sah ich sie, selber chronisch blank dank Minirente,
nur noch selten. Wir blieben per Post, auch email in Kontakt. Essener
Freunde kümmerten sich dann um sie, als es zuende ging. Sie starb
am Lungenkrebs, von dem sie uns nichts mehr gesagt hatte, des Nachts, in
den frühen Stunden des 29. Januar 2015.
Vergessen wir nicht, welche Zeiten es sind, für die
Menschen, die sich mühen. Die Mühseligen, die mit ihrer Last.
Die Verkäuferinnen, die an der Kasse sitze, die in den Büros
und Fabriken, die ausgepreßten. Die vielen Künstlerinnen und
Künstlern, von denen man glaubt, daß sie der Kunst wegen von
Luft und Liebe leben können, statt vom Brot.
(30.Jan. 2015, ca. 01.00 h früh; minimal ergänzt
am Nachmittag)
* Recherchierend finde ich das Jahr 1979, dasselbe Jahr,
in dem ich aus Taiwan zurückkehrte: zunächst (da arbeits-, mittel-
und wohnungslos) zu den Eltern, 1980 nach Bochum. Peter, dem ich diesen
Text schicke, schreibt mir dann: Nein, es war 1978. Und die Trennung:
schon 1984.
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