Lai
Shen-chon
Ein die dahintreibende Welt transzendierender künstlerischer
Glanz
Huang Yu-Shans Film “The Strait Story” oder
“Chronik des Südlichen Lichts der dahintreibenden Welt [Ukiyo]”
(Nánfang jìshì zhi fúshì guangying)*
[Zìyóu shíbào
/ Freedom Times] Anmerkung der Redaktion: Viele außerordentliche
Seelen sind verschollen in der Zeit, oder sie sind vergessen. Die Bilder
der Regisseurin Huang Yushan geben die Geschichte des taiwanesischen
Künstlers Huang Qing-chéng [Huang Ching-cheng] und von Li Guixiang
wieder, die von dem Gelehrten Lai Shen-chon in seinem Artikel dargelegt
wurde, aber sie zeigen auch das Leben von Künstlern damals und ihre
Situation in einem fremden Land.
Die kunstvolle Filmsprache von The
Strait Story – oder „Chronik des südlichen Lichts von Ukiyo“ hat große
Ähnlichkeit mit der Nutzung der stream of consciousness Technik
durch die zeitgenössische Literatur sowie mit ihrer Verwendung
des Kunstmittels der wechselnden Perspektive (point of view). Die Existenz,
Zeit und Welt weisen eine tiefe Beziehung auf, wie Martin Heidegger) in
seinem Werk Sein und Zeit darlegte.
Die Freiheit bezüglich der
Zeit, diese einzigartige Fähigkeit, die dem, der wirklich die filmischen
Mittel meistert, gegeben ist, kann auf der Filmleinwand die Zeit
eines Ereignisses unterbrechen, verkürzen, verlängern, sie kann
Zeitausschnitte mit einander im Wechsel verzahnen, oder sogar die Zeit
zurückspulen, kann das Geschehen in umgekehrter Reihenfolge zeigen.
Der Film ist flexibler als die Literatur, und daher kann diese Funktion
durchsetzt sein von der Nutzung des Stroms des Bewusstseins [stream
of consciousness] der zeitgenössischen Literatur, sie kann auch den
Blickwinkel verschiedener Personen anbieten. Dies schafft die Magie der
künstlerischen Kraft, und sie verleiht der menschlichen Existenz einen
Sinn.
Außerdem basiert der Film
auf vorgefundenen Gegenständen, findet Bilder für die Wahrnehmung
der Gegenstände,
wahrgenommene Dinge längs der Straße, die direkt berühren,
und Literatur, die alles in Worte zu fassen sucht, ist alles in allem einen
Schritt weiter weg von den Dingen. Dieser Film soll Sie direkt sehen lassen,
und Literatur bedeutet nur, zu spüren, daß Sie denken, sodaß
die poetische Kraft des Films direkter ist; sie enthüllt die magische
Kraft der Kunst.
Kulturelle Reflektionen: vom Realismus zur Poesie
Huang Yushan lenkt die „Chronik
des südlichen Lichts der dahintreibenden Welt“
auf der einen Seite mit der Kraft des Realismus, und der Film ist voller
Reflexionen bezüglich Taiwans Kulturgeschichte. Andererseits wird
das auch in eine poetischen Atmosphäre eingeschmolzen. In der bitteren
Geschichte Taiwans ist eine sehr poetische Stimmung anwesend. Aber das
ist kein billiges poetisches sentimentales Selbstmitleid, sondern durch
das Leiden, das schlammige, landet man im erhaben Poetischen!
Der ganze Film zeigt Li Guixiang und Huang Qing-chéng
[Huang Ching-cheng] in Japan und Taiwan bei der Verfolgung ihrer künstlerischen
Ideale. Zugleich erzählt er eine Liebesgeschichte von großer
Schönheit. and offenbart die Mentalität des „lies
mich!“ Er verwendet dabei die Perspektive
des Ich-Erzählers für ihre Erfahrungen, und lässt bei ihrer
Selbstdarstellung starke Gefühle zu, wobei er implizit poetisch
ist in seiner Atmosphäre und Stimmung.
Auf der anderen Seite lernen wir mehr von Xiu Xius Erfahrung
bei der Restaurierung von Bildern sowie von ihrer Feldforschung; es ist
ihre restaurierende Pinselführung, die Huang Qing-cheng's Gesicht
der Schönheit sichtbar macht. Eine Erfahrung, dank der Sicht einer
dritten Person, welche die Menschen von der Kunst Huang Qing-chéngs
bewegt sein läßt, und zwar in der realen Welt der Authentizität.
Auf diese Weise hat die Regisseurin durch wechselnde Nutzung
der Sicht von dritter Person und erster Person [Third-Person- und First-Person-Sicht,
d.h. auktoriale Erzählweise, Ich-Erzählung] erreicht, daß
die Welt der Kunst, Huang Qing-chéngs und unsere, mehrdeutig
wird, und was wir erleben, ist voller Geheimnisse des Lebens und der
Kunst.
Gleichzeitig hat die „Chronik
des südlichen Lichts der dahintreibenden Welt“
reiche und tiefe Implikationen. Der Film endet mit dem Untergang der „Takachiho
Maru“ durch einen US-Torpedo. Huang Qing-chéng und Li Guixiang,
die sich an Bord des japanischen Schiffes befinden, sind beide gezwungen,
ins Meer zu springen. Wenn ich das sehe, kann ich mir nicht helfen; ich
bin entsetzt: Ist dies das sogenannte „Ukiyo-Licht“
und die unerbittlichen Wellen des Meeres, sind sie es? Ist es wahr, daß
der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Japan in Taiwans Gewässern
die Illusion von Licht verschlang und verschattete?
Heute ist unsere Gesellschaft überschwemmt von amerikanischer
und japanischer Pop-Kultur. Taiwans eigene kulturelle Identität, die
kulturelle Basis in Taiwan, wo sind sie?
Der Film „Chronik des südlichen
Lichts der dahintreibenden Welt“ gibt seine
Antwort: Xiu Xiu wird alles geben, voller Ausdauer und Engagement, um diesen
Huang Qing-chéng wiederzufinden und damit einen Teil von Taiwans
Kunstgeschichte, der verloren ging. Am Schluß des Films folgen wir
Xiu Xiu und sehen mit ihr die Glühwürmchen, kehren mit
ihr zurück zu den reinen Ebenen Süd-Taiwans: Heianzhiguang, Bauern-Land,
Heianzhiguang. Lassen wir sie dorthin gehen. Dort kann man das Gemälde
„Die schwarze Frau“ genießen – das Original, die Quelle. Sie ist
voll von dem geheimnisvollen Huang, die Quelle in solchen Ebenen,
Heianzhiguang, in Süd-Taiwan. Xiu Xiu wird sie, scheint es,
in naher Zukunft sehen, sie wird Taiwans Land verbunden bleiben, wo Huang
begraben liegt – Land der Träume für immer.
Die so genannte „Welt fließender Schatten“ ist daher
nicht die Menschen beißende Illusion von Lichtwellen, sondern sie
ist gegeben mit dem Staub des Bodens und ist die positive Kraft des Lichts.
Das Schicksal hat durch ein derartiges Begreifen einen anderen Namen erhalten:
Hingabe ist ein metaphysischer Glanz, der die dahintreibende Welt transzendiert!
Poetischer Realismus der Fotografie, verbunden mit
dem Inneren
In G. Bettons Filmästhetik lesen wir: „Man
kann sagen, daß alle Filme realistisch sind. Oder in Delacroix’ Worten:
‚Alle Werke sind Ausdruck eines Ideals, aber für einen realistischen
Künstler ist das Ideal fast identisch mit dem Moment des Kontakts
mit der Geburt des Wirklichen.’“ In der „Chronik des südlichen
Lichts der dahintreibenden Welt“ verwendet Huang Yushan eine beträchtliche
Anzahl von Kunstmitteln:
stream of consciousness, Träume, Zeitungsausschnitte
oder die Figur [und Perspektive] der Xiu Xiu. Mit der Kamera schuf die
Regisseurin, so denke ich, echte Emotionen, einen Ausdruck der Beziehung
zwischen Mensch und Land, einen „poetischen Realismus“ und
„inneren Realismus.“
Von dem ästhetischen Charakter des Films sprechen
heißt über „die Beziehung zwischen Film und Literatur“ sprechen.
Walter Benjamin, in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
lenkte bewußt das Gespräch auf die Ästhetik des Films:
Erstens, das ästhetische Modell (Arbeit der Produktion, Herstellung
ästhetischer Empfindung, die Arbeitsabläufe) der Revolution,
zweitens, Montage, Collage, Juxtapositionen, etc. Schwerpunkt gesetzt auf
die Beziehung mit dem Film, drittens, Benjamins Kritik und das Bewusstsein
von Realität und filmischem Realismus.
Huang Yushan ist eine Filmregisseurin, die von Anfang
an in der Gesellschaft und Geschichte Taiwan verwurzelt ist. Sie
hat viele Dokumentarfilme gedreht, unter anderem über taiwanesische
Künstler wie Zhu Míng [Ju Ming], Cài Ruìyuè
[Tsai Jui-Yueh], Huang Qing-chéng und andere. Aber sie ist auch
Taiwans wichtigster feministischer Regisseur. Ihre Aufmerksamkeit als Filmmacherin
gilt besonders der taiwanischen Kunstgeschichte sowie dem kognitiven und
kreativen Bewusstsein von Frauen.
„Die Chronik des südlichen
Lichts der dahintreibenden Welt“ ist ein Beispiel.
Die Filmmacherin verwendet Montage, Collage, Juxtaposition, um unser
übliches Verständnis zu untergraben, und sie weckt die Erinnerung
an verlorene Geschichte. Die Heimat des Film ist das Magnolien-Feld in
der Frau; Frauen erscheinen in den geheimnisvollen Bildern und im Leben
des Protagonisten, aber sie sind lebendige, starke Frauen, und Li Guixiang,
Xiu Xiu sind sehr bewußte Frauen, sie halten fest an
ihren Werten.
Der Protagonist der „Chronik
des südlichen Lichts der dahintreibenden Welt“,
Huang Qing-chéng, sowie Chen Dewang [Chen De-wang], Hóng
Ruìlín [Hong Rui-lin], Zhang Wan-chuan [Chang Wan-chuan]
und andere taiwanesische Künstler hatten im Jahre 1938 die Action
Art Group gegründet (die MOUVE Künstlervereinigung). Die
MOUVE Künstler suchten ihre künstlerische Ausbildung in Tokio
zu vertiefen. Die jungen Künstler kehrten zurück nach Taiwan
und bildeten Künstler-Gruppen. Man war ein Vertreter der Leidenschaft,
jung und der Forschung zugetan, und mit ihrem klaren und innovativen Geist
war diese Vorkriegs-Malerei eher geprägt von einem Anti-Establishment
Gestus. Ob wohl, was die zukünftigen Pläne der Regisseurin Huang
Yushan angeht, auch Taiwans Kunstgeschichte und wichtige Maler
thematisch eine Rolle spielen werden?
Vermutlich wird es um Taiwans Kultur gehen und das Filmpublikum
würde gern die Antwort auf das betreffende Problem kennen. So drückt
zum Beispiel Hong Ruilins berühmtes Gemälde von Bergleuten
tiefe soziokulturell spezifische Gefühle [deep local sentiments] und
zugleich menschliche Betroffenheit aus. Wie Huang Qing-chéng
gehörte er der MOUVE Gruppe an. Und angesichts der Höhen und
Tiefen seines unkonventionellen Lebens wäre das ein sehr attraktives
Thema. Dann ist da Chen De-wang mit seinem einzigartigen Stil und seiner
künstlerischen Leistung. Er hinterließ Gemälde, welche
uns die Kunstästhetik einer ganzen Generation, die eine künstlerische
Elite bildete, zeigen.
Zuerst veröffentlicht in Zìyóu shíbào
(Freedom Times) Beilage, 9. Nov. 2005
Übersetzt von Andreas Weiland.
Prof. Dr. Lai Shen-chon [Lai
Xianzong] ist Dekan der Fakultät für Chinesische Literatur an
der National Taipei University.
Seine Spezialgebiete sind
Heidegger, der Buddhismus sowie die philosophische Reflexion über
die Kunst. Prof. Lai promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität
in München.
Lai Shen-chon, Bibliographie
(Auswahl)
* Anmerkung des Übersetzers: Während der gängige englische
Titel des Films The Strait Story ist, eine Anspielung auf die Taiwan-Straße,
wo die Takachiho Maru torpediert wurde, findet sich in der Filmographie
auch die alternative Version Chronicle of the Southern Light of Ukiyo
[Chronik des südlichen Lichts von Ukiyo; Chronik des südlichen
Ukiyo-Lichts]: ein Versuch, den langen chinesischen Titel zu übersetzen.
Ukiyo,
auf Chinesisch fú shì, bedeutet
schwimmende oder schwebende oder dahintreibende Welt (engl.: “floating
world”).
Der Begriff erinnerte an Edo, später umbenannt in Tokio, mit seiner
als ukiyo-e bekannt gewordenen Kunst des späten 17.,
des 18., 19., und frühen 20. Jahrhundert und ihren "pictures
of the floating world" [Bildern der flüchtigen/dahinfließenden
Erscheinungen], die typischerweise Landschaftsmotive und historische Erzählungen
aufgriffen, die sich aber auch der Welt des Volkstheaters und der Geishas
zuwandten.
„Fú shì“ bzw. „ukiyo“ ist eigentlich ein philosophischer
Begriff des Buddhismus, der auf die Flüchtigkeit und „Scheinhaftigkeit“
der Welt anspielt.
Dank einer späteren Bedeutungsverschiebung wurde dieser skeptische
Bedeutungskern umgemünzt in einen affirmativen; Ausdruck einer nihilistischen
und dekadenten Haltung von Teilen des Bildungsbürgertums um 1900.
Als „fú shì“ oder „ukiyo“, als „fließende, dahindriftende“
Welt bezeichnet man jetzt (allerdings ohne an der buddhistischen Neigung
zur Weltabgewandtheit festzuhalten) die Welt der Huren, Theaterleute, Maler,
Dichter – mit einem Wort, die Welt der Boheme; eine Außenseiterwelt,
die fasziniert und der zugleich die Aura des Verruchten anhaftet.
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