Andreas
Weiland
"The Strait Story", ein Film von
Huang Yu-Shan
The Strait Story (Fu Shih Kuang Ying), Regisseurin:
Huang Yu-shan, 35mm, Farbe, 105 min., Taiwan, China (2005). Darsteller:
Freddy Lin, Yuki Shu, Chang Jun-ning, Lin Hong-shiang, He Hao-jie, etc.
Die Filmregisseurin, Huang Yu-Shan
(links), mit Yuki Shu, die die Rolle der Restauratorin Xiu-xiu spielt
Der Film Nánfang jìshì
zhi fúshì guangying (der englische Titel, The Strait Story,
bezieht sich allusiv auf die Taiwan
Straße oder Taiwan Strait) ist ein Spielfilm ,
also Fiktion. Und doch ist er,
irgendwie, semi-dokumentarisch. Und dies sowohl hinsichtlich seiner Kunstmittel,
das heißt, bezüglich der verschiedenen Weisen, die „Fakten“
eines Lebens zu erfinden und zu präsentieren. Fakten über das
Leben des Protagonisten. Denn der Film erzählt die Geschichte eines
Mannes, der tatsächliche existierte: Huang Ching-cheng. Ein Maler,
der in der Tat ein naher Verwandter der Regisseurin Huang Yu-shan war.
Durch die Bilder, die sie auswählt, die Einstellungen, Sequenzen,
durch Farbe und Soundtrack erzählt sie die Geschichte eines bemerkenswerten
Lebens, aber sie richtet das Augenmerk zugleich auf die Suche nach seinen
Spuren. Es ist offensichtlich, daß der Film, im großen und
ganzen, die Geschichte des Lebens des Malers auf chronologische Weise erzählt,
von der Kindheit bis zu dem Moment, als der Tod sehr nah ist. Und doch
wird diese Geschichte wieder und wieder unterbrochen. Und so können
wir, formal betrachtet, nicht den Wechsel in der Stimmung (oder Wärme?)
des Films als Ganzem übersehen. Wechsel in der Temperatur der Farben,
zum Beispiel. Und dann sind da die damit einhergehenden Wechsel, die sichtbar
werden. Es ist ein „Hin und her“ zwischen zwei getrennten Realitäten.
Auf der einen Seite, die Umgebungen, die Gestalten, die Stimmen der Vergangenheit:
Des Protagonisten, Huang Ching-cheng, mithin. Und der Menschen, denen er
begegnet in jenem Stück Vergangenheit, das die Zeit seines Lebens
ist. Aber, auf der anderen Seite, sind da die Orte und Menschen und Stimmen
von heute. Ersichtlicherweise ist jener Erzählstrang des Films, der
die Gegenwart repräsentiert, weitgehend auf die Rekonstruktion des
Werks des Malers (und seines Lebens) fokussiert. Hier begegnen wir vor
allem der jungen, behinderten, vielleicht todkranken jungen Frau, die als
Restauratorin arbeitet; eine, die Kunstwerke vor dem Verfall bewahrt –
Gemälde, Skulpturen, Keramik. Und so sehen wir sie, im Kontext des
Films, vor allem als eine Expertin, die sich einsetzt für das Wiederentdecken
und die sorgfältige Restaurierung der noch existierenden, aber oft
beschädigten Bilder dieses „nativen“ Themen zugewandten, sehr taiwanesischen
Malers. Zugleich ist da der Bezug zur Krankheit (ihrer Krankheit!) und
ebenso, der zu ihrem Freund oder Verlobten. Und das, was sie uns, den Zuschauern,
gibt, ist eine Lektion in Frauen-Emanzipation, aber zugleich auch ein Bewußtsein
davon, was ernsthafte Arbeit und wahrhafter Respekt für das moderne
künstlerische Erbe der Insel bedeuten. Es ist ihre sture Entschiedenheit,
eine gute Arbeit zu machen, und die Entdeckung eines beinah verlorenen
künstlerischen Oeuvres voranzutreiben, die wir schätzen lernen
und uns als Beispiel nehmen. Aber wir entdecken, darüber hinaus, auch
etwas anderes. Es ist die Bedeutung, die sie ihrer Unabhängigkeit
beimisst. Eine Unabhängigkeit, die ihr mehr bedeutet als alle Sehnsucht
nach Wärme und einer auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Beziehung
und die sie verwirklicht durch ihre Arbeit und auf Grund ihrer emotionalen
Reife. Dies alles wird bewahrt in einer zarten Liebesbeziehung – einer
Beziehung, in der ihr Freund, der in der letzten Einstellung wehmütig
einem vorbeifahrenden Zug nachblickt, viel lernt und noch so viel zu lernen
hat.
Die Art und Weise, in der der Film
zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt, ist deutlich markiert, sagte
ich. Verschiedenes Personal der Figuren, verschiedene Stimmen, verschiedene
Farben. So gibt es den klaren Rhythmus wechselnder Welten und Zeiten, und
der Zuschauer hat keine Schwierigkeiten, jede Welt als das zu erkennen,
was sie ist: das koloniale Taiwan, das Vorkriegs- und dann im Krieg befindliche
Japan, das Taiwan von heute. Unsere Ohren und Augen nehmen den Unterschied
wahr. Jetzt hören wir Taiwanesisch, dann Japanisch, gelegentlich Mandarin
(also Hochchinesisch). Hier sehen wir die fiktionale Repräsentation
des Kindes, des Heranwachsenden, der in einem Dorf der Pescadoren (der
Penghu-Inselgruppe) aufwächst, dann den jungen Mann, der in den 1920er
Jahren der Ausbildung an einer Kunstakademie wegen nach Japan geht, wir
sehen den Künstler, der selbst in jenem Land ein gewisses Maß
an Anerkennung erfährt und der wiederholt zurückkehrt, bevor
er schließlich die letzten Worte (so dürfen wir annehmen) sagt:
zu seiner Geliebten, seiner Frau oder Verlobten, auf jenem Dampfer, der
beide nach Taiwan zurückbringt und der vom Torpedo eines amerikanischen
U-Boots getroffen wird, in der Taiwan-Straße, der Taiwan Strait,
so nah schon dem Hafen von Keelung. – Dort bemerken wir die pseudo-dokumentarische
Suche nach den bemerkenswerten Bildern von Huang Ching-cheng, und nach
Spuren dieses taiwanesischen Künstlers, der allzu früh starb.
Dieses Streben, den Künstler zu verstehen, seine fast vergessenen
Arbeiten wiederzufinden und zu sehen und wertzuschätzen, ist eine
Suche, die ihre eigene Bedeutung hat in der Filmerzählung. Wir wissen
natürlich, daß die Art und Weise der Präsentation im Film
auch die gezeigten Geschehnisse dieser Suche als Fiktion identifizierbar
macht; das heißt, es ist fiktionale Suche, filmische Erzählung
einer Suche. Und insoweit befindet es sich auf gleicher Stufe mit dem übrigen
Film, als Fiktion. Aber es hat eine Funktion über das Einrahmen
der wiederholten, elaborierten, fiktionalen „Rückblenden“ hinaus,
welche in ihren Bildern Momente aus dem Leben des Malers repräsentieren.
Es handelt sich um mehr als ein entscheidendes, Rhythmus produzierendes
filmisches Kunstmittel, um mehr als eine gewisse Anzahl komplizierter und
auf gewisse Weise experimenteller Fragmente eines „Rahmens“ innerhalb eines
Films, den wir als „Rahmenerzählung“ erkennen. Trotz seines Charakters
als Fiktion verdoppelt es nichtsdestoweniger irgendwie die reale Suche,
die dem Film vorausging; und es ist dies, denke ich, was es – und den Rest
des Films ebenso? – fast zu einem semidokumentarischem Werk macht.
Eine Frage taucht diesbezüglich
auf: Sind die Kunstwerke, die wir als restaurierte Werke des Malers sehen,
tatsächlich reale, authentische Werke von Huang Ching-cheng? Ich denke
im Ernst, daß dies möglicherweise der Fall ist. Dies wäre
ein weiterer Hinweis darauf, daß in der Tat das Fiktionale und das
Dokumentarische nicht klar getrennt werden kann in diesem Film. Es
gibt Aspekte in diesem Kunstwerk, diesem art film Huang Yushans und ihrer
Mit-Schaffenden, welche die theoretisch abstrakte Trennlinie zwischen dem
Fiktiven und dem Dokument, dem Spielfilm und dem Dokumentarfilm als flüssig
und durchlässig erscheinen lassen. Als etwas, das auf fast nicht wahrnehmbare
Weise wiederholt überquert wird und wir spüren dennoch die ganze
Zeit, daß es überquert worden sein muß.
Die Klassenrealität der Gesellschaft
kommt allusiv ins Spiel, in diesem Film. Besonders im Fall des Mädchens
aus dem Dorf, das das erste ‚Modell’ Huang Ching-chengs war. Aber im großen
und ganzen ist sie nur auf reduzierte Weise präsent. Die ‚gewöhnlichen
Leute’, die wir vorfinden, gehören hauptsächlich der ‚Mittelklasse’
an (um einen Begriff zu benutzen, den bürgerlich liberale Soziologen
bevorzugen). Sie sind Kaufleute. Einige von ihnen stammen vermutlich
aus reichen Grundbesitzer-, also gentry Familien. Und es gibt die ‚Gebildeten’:
ihre erwachsenen Kinder. Wenn Kleinbauern, Fischer, Straßenverkäufer,
ganz allgemein die armen Leute ins Bild kommen, so bleiben sie marginal.
Selbst das gerade erwähnte Mädchen, das vermutlich Liebe zu Huang
Ching-cheng empfand, taucht nur kurz auf, zwei oder drei Mal. Auf Penghu,
erfahren wir (ist es die Stimme eines auktorialen Erzählers?) wäre
es vermutlich unmöglich gewesen für die zwei, die aus Familien
mit unterschiedlichem sozialen Rang stammten, zu heiraten.
Auf die japanische Okkupation nimmt
der Film auf offenere und zugleich differenzierte Weise Bezug. Dies erlaubt
uns nicht nur, die Aspekte der Diskriminierung zu erkennen, welche die
Einwohner Taiwans zu Bürgern zweiter Klasse von Greater Japan machte.
Wir entdecken auch die Existenz von guten Beziehungen zwischen normalen
Leuten beider Länder.
Die segmentierten Stücke des
„Rahmens“, der die Gegenwart repräsentiert (und somit den heutigen
Blick zurück auf eine andere Periode) alternieren auf schöne
Weise mit den Blöcken oder Sequenzen, welche die Vergangenheit repräsentieren.
Ich denke, daß die Stimmung der Farben, die für das JETZT stehen,
kälter aber auch klarer ist als die der Farben, in denen alles, was
DAMALS geschah, für uns sichtbar wird.
Die Sequenzen, welche die Vergangenheit
repräsentieren, sind wohl weitgehend im Filmstudio aufgenommen worden,
so scheint es. Die Beleuchtung erscheint als gedämpfter, manchmal
neigt sie zur Dunkelheit hin. Wir finden schwach beleuchtete Innenaufnahmen
und eine Anzahl von Abend- oder Nachtszenen, die [vor Filmstudio-Kulissen,
wie ich vermute] ‚draußen’, ‚auf der Straße’ spielen, in den
Partien, bei denen es um den Aufenthalt des Malers in Japan geht. Dies,
ebenso wie die letzte Sequenz der erzählten Geschichte von Huang Ching-cheng’s
Leben, mit ihrer Präsentation der kleinen Kabinen und engen Korridore
des Dampfers, dann der dunklen See, hinterlässt in mir den Eindruck
einer wehmütig melancholischen Vergangenheit, die fast schon vergessen
ist und nun wieder auftaucht. Viel davon hat die Historisches suggerierende
Aura, die wir Sepia getönten Fotos zuzuschreiben geneigt sind.
Huang Ching-cheng [Freddy Lin],
with Li Guixiang, in seinem Apartment und Studio in Japan
Huang, auf einer Ausstellung
Wenn der Film sich der Gegenwart
zuwendet, gibt es mehr Licht, denke ich. Ist es die Fülle des Lichts,
die faktenbezeugende, anti-auratische Qualität der Farben, welche
dieses Gespür einer herben, ungemilderten Nähe, eines klaren
Bewußtsein von ‚Präsenz’ erzeugt?
In der Tat erscheinen mir jene Partien
des Films, welche das ‚Heute’ porträtieren, als präsenter: sichtbar
in größerer Klarheit. Sie sind ‚unbezweifelbarer’, weniger ausgestattet
mit den Merkmalen einer sich entfaltenden Erinnerung, eines Blicks auf
etwas schon lange Verschwundenes. Tragen Nahaufnahmen (und Halbtotalen)
zu diesem Effekt bei?
Die Restauratorin, Xiu-xiu [Yuki
Hsu], bei der Arbeit
Da es zwei Erzählstränge,
zwei Geschichten gibt, die der Film erzählt, ist es offensichtlich,
daß das Alternieren, der Wechsel zwischen beiden, ‚Brüche’ formt:
es produziert Kontraste – und diese Kontraste sind sichtbar. In der Tat
spüre ich, daß die heutige Realität irgendwie kühl
und sachlicher ist als jene, die Huang Ching-cheng, der Maler aus Penghu,
erfuhr.
Penghu selbst, und die Zeit von
Huangs Aufwachsen dort, die zu entdecken wir aufgefordert sind –
sie verströmen fast die friedliche, nostalgische Atmosphäre mancher
Filme, die Hou Hsiao-hsien produzierte. Aber dies ist auch diejenige Partie
der im Film erzählten Vergangenheit, in der Außenaufnahmen am
häufigsten sind. Als ob, aus einem seltsamen Grund, das, was am weitesten
entfernt ist, auch die Wirklichkeit sei, die der Filmmacherin näher
als alle anderen ist. Und daher, durch den Film, auch den Zuschauern.
Aber sie ist nah und warm, eine Erinnerung erfüllt von mildem Sonnenlicht;
nicht nah und kalt, technisch, modern und sachlich, wie die heutige Realität.
Und doch nimmt die kühle Gegenwart,
die der Film zeigt, ein Thema oder ein Anliegen auf, das so zentral dem
Leben des Malers einbeschrieben ist, welches sich vor unseren Augen, sowohl
in Taiwan wie im kolonialistischen ‚Mutterland’ entfaltet: In beiden Welten,
der des Malers und jener der Kunstrestauratorin, ist dasselbe leidenschaftliche,
drängende, ernsthafte Streben nach Schönheit und Freiheit sichtbar.
Wir entdecken, durch den ganzen Film hindurch, wie eben dies zur Hauptantriebskraft
im Leben des Malers wird. Und wir wissen, daß das irgendwie präsent
ist in der jungen Frau, die, auf ihre eigene bescheidene Weise, die tapfere
Protagonistin ist, die stur der heutigen trostlosen doch glitzernden globalisierten
Welt die Stirn bietet. Beide sind auf ihre Weise Außenseiter, fast
Fremde in ihren verschiedenen Reichen: sie sind ruhige, beständige,
entschiedene und nichtsdestotrotz leidenschaftliche Rebellen: Rebellen
in der Liebe, nach freien Beziehungen Suchende. Sie brechen sanft aber
auf gänzlich ernsthafte Weise Tabus – brechen mit traditioneller patriarchalischer
Autorität, im Fall des Malers; mit der konventionellen Rolle der Frau
als eine, die dem Mann untergeordnet ist, nachgibt, sich seinen Wünschen
fügt, auf ihn hört und immer seinem Rat folgt, im Fall der heutigen,
Schönheit suchenden, die Kunst liebenden Restauratorin.
Vielleicht ist dies die entscheidende
,Verdoppelung’ in diesem Film – daß er den Durst nach Freiheit atmet,
daß er eine strukturelle Beziehung zwischen den beiden Geschichten
konstruiert, der Geschichte des Rahmens und der Geschichte der erzählten
Vergangenheit, und daß in beiden Geschichten die jeweilige Hauptperson,
in seinem oder ihrem Streben nach Schönheit und menschlicher Emanzipation,
eine subversive doch stille Revolte verkörpert. Vielleicht ist es
kein Zufall, daß in der gegenwärtigen Welt, die wir in diesem
Film entdecken, die Hauptperson eine Frau ist.
(Vom Verfasser ins Deutsche übersetzt am
29. April 2011)
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