Für eine Kulturwissenschaft,
die Kulturrevolution kennt
Während sich sowojl "in Übersee"
wie "zuhause" die Ereignisse überstürzen, die den Beginn des
21. Jahrhunderts zum tiefsten historischen Einschnitt seit 1945 machen
könnten, geht die Enthistorisierung des öffentlichen und privaten
Bewußtseins lustig weiter. Während man uns droht mit "Schluß
mit lustig", boomt allein die geschichtsvergessene Spaßgesellschaft
weiter. Welche Rolle spielt in diesem Kontext die "kulturwissenschaftliche
Wende"? Ob unter
"kulturwissenschaftlicher Erweiterung"
und "cultural studies" eher die Erweiterung um Pop und Spaßmedien
verstanden wird oder eher die ethnographische Erweiterung - auch hier sieht
es so aus, als ob die Enthistorisierung längst gesiegt hätte
und als ob die Berücksichtigung sozialer Konflikte hoffnungslos "alt
aussähe". Jedenfalls ist allen gängigen Paradigmen von Kulturwissenschaft
gemeinsam, daß sie so etwas wie Kulturrevolution nicht kennen.
Als Alternative zu diesem status
quo soll hier ein diskurstheoretisches Konzept von Kulturwissenschaft vorgeschlagen
werden, bei dem "kultur" als die Gesamtheit der Interdiskurse aufgefaßt
wird. "Interdiskurse" sind solche Diskurse, die nicht bloß von Experten
verstanden werden können. Bekannte Beispiele: Populärwissenschaft,
Populärphilosophie, Medienwissen - und eben Literatur und Kunst. In
Interdiskursen werden ganz verschiedene Spielarten von Wissen (z.B. etwas
Biologie, etwas Wirtschaft, etwas Technik...) allgemeinverständlich
vereinigt. Man kann es sich am Beispiel Internet verdeutlichen, wo ebenfalls
Wissen der verschiedensten Arten zusammengebracht wird - nur daß
Interdiskurse wirklich integrieren und nicht bloß aufhäufen.
Also geht die Enthistorisierung
aufs Konto unserer Interdiskurse, vor allem unserer Mediendiskurse. Also
heißt "Kulturrevolution" nichts anderes als: andere, alternative
Interdiskurse, die allgemeinverständliches Wissen anders auswählen
und anders integrieren.
Konkret geht es also um den enthistorisierenden
Effekt der aktuell dominanten Interdiskurse Mediounterhaltung und Mediopolitik,
die die Opfer der "Reformen" in die beispiellose Ohnmacht eines geschichtsvergessenen
Bewußtsein bugsieren. Diese Opfer der "Reformen" sind keineswegs
einverstanden, aber sprachlos, konkret: diskurslos.
Das wird am konkreten Beispiel
der "Bildzeitung" illustriert.
Am Schluß wird gefragt: Wie
könnten denn kulturrevolutionäre Fluchtlinien aussehen, die in
ein "neues historisches Bewußtsein" münden könnten, wodurch
wir den unerhörten Moment "2001 plus x" begreifen lernen und auf seine
Höhe kommen könnten? Auf der Basis einer gezielt anachronistischen
Lektüre von Hölderlins Fragment "Das nächste Beste" wird
angeregt, "historisch-operative Simulationen im prognostischen Nahbereich"
auszuprobieren.
Es gibt auch ein konkretes Beispiel.
Jürgen Link, Professor
für Literaturwissenschaft (und Diskurstheorie) an der Universität
Dortmund. Schwerpunkte: struktural-funktionale Interdiskurstheorie; Kollektivsymbolik;
Normalismustheorie; literarhistorisch: Lyrik; Hölderlin und die 'andere
Klassik'; Brecht und die 'klassische Moderne'. Einige Publikationen: Literaturwissenschaftliche
Grundbegriffe, München (Fink) 1983; (mit Wulf Wülfing Hrsg.)
Nationale
Mythen und Symbole, Stuttgart (Klett-Cotta) 1991; Versuch über
den Normalismus, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1996, 2. Auflage 1999;
Hölderlin-Rousseau:
Inventive Rückkehr, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1999; (Mitherausgeber):
kulturRRevolution
- zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Essen (Klartext Verlag)
1982ff.; Mitbegründer der Diskurswerkstatt Bochum (1980ff.)
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