Margot R. Lacroix
 
Über Rezeptionsweisen und Rezeptionsbedingungen
Einige Überlegungen zum Widerspruch zwischen unmündigen und aktivierenden Weisen, der Kunst zu begegnen

In einem Beitrag, der vor Jahren im WDR 3 gesendet wurde und der betitelt war "Der Kleinbürger als Komponist, oder warum wir von Beethoven erschüttert werden",
stellte Peter Schleuning nach dem Abspielen des ersten Satzes, T.186-283, von Beethovens Sinfonie Nr. 3 den Hörern eine Reihe von Fragen.(1) Er fragte:
"Was hat sich in Ihrem Kopf getan [...] als Sie dieses Stück Beethoven-Musik hörten?
Waren Sie befremdet [...] Oder haben Sie diese Musik mit einem Ihnen vertrauten Vergnügen genossen?
Haben Sie sofort nach dem Erklingen der ersten Takte Ihre Ohren abgeschaltet [...] Oder haben Sie aufgehorcht [...]?
Haben Sie sich die ganze Zeit über gefragt, was für ein Stück es gewesen sein könnte? [...] 
[W]aren Sie damit beschäftigt, herauszubekommen, ob man gerade in der Exposition oder der Durchführung war?"(2)
 

Offensichtlich ist, wie der Verfasser des der Sendung zugrundeliegenden Textes andeutete, die Bandbreite der in dieser Gesellschaft heute anzunehmenden Rezeptionsweisen sehr weit. Und es soll nicht unerwähnt bleiben, daß - altersunabhängig - der größte Teil der Radiohörer wohl den Sender wechelt, sobald klassische Musik erklingt. 

Ist es eine Klassenfrage, eine Frage der in vielen Fällen und in vieler Hinsicht immer noch  klassenpezifischen Sozialisation? Ja und nein. Auch denjenigen, denen angesichts ihres familiären Backgrounds mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Oberschul-Ausbildung, eventuell sogar eine akademische Ausbildung zuteil wird als der Mehrzahl ihrer Altergenossen aus Arbeiterfamilien (die in Deutschland zwar nicht mehr unbedingt auf die Sonder- und die Hauptschule beschränkt, aber immer noch überwiegend vom Abitur ferngehalten sind), kann die Freude an der Musik, die Neugier, die Wachheit ausgetrieben werden. Und sie wird auch nicht selten ausgetrieben. Und zwar ebenso durch 'leistungsfixierte' Elternhäuser wie durch eine zum großen Teil angepaßte, phantasielose, sich den vorherrschenden 'Zwängen' unterwerfende Lehrerschaft, die den Druck, der 'von oben' und das heißt, von der Kapitalseite kommt, aufnimmt und weitergibt. Unter solchen Bedingungen ist offenes, lebendiges, den eigenen Bedürfnissen folgendes Erkennen in Kindern, Jugendlichen und jungen 'Erwachsenen', selbst wenn die klassenmäßigen (bildungsbürgerlichen  bis großbürgerlichen) Voraussetzungen in positivster Weise gegeben erscheinen, oft nur den an sie gerichteten Erwartungen zum Trotz möglich. Das gilt auch für das Erkennen einer Schönheit der Musik - ob es sich nun um die von Beethoven oder Borodin, Morton Feldman oder Bob Dylan, die Gesänge gewisser cantastorie des Mezzogiorno oder klassische chinesische Musik, die Songs von Papa Wemba oder indische Ragas handelt.

Eins ist damit allerdings nicht gesagt: daß die Chancen des Erkennens der Schönheit und Ausdruckskraft einer Musik, wie auch ihres Sinns und selbst ihrer ästhetischen Strukturen denen, die von 'höherer Bildung' gewöhnlich ausgeschlossen werden, rigoros und ein für allemal zerstört sind. Es gibt tatsächlich den fast sprichwörtlich gewordenen "letzten Bauern im Bayrischen Wald", der, wie Jean-Marie Straub andeutete, zum Beispiel jenen Sinn und jene Schönheit eines von Danièle Huillet und ihm gemachten Films begreift, selbst wenn ihm die klug daherschwätzenden Worte (und Straub würde sagen, gottseidank) fehlen, mit denen der 'Bildungsbürger' seine Bildung unter Beweis stellen will.(3) Er, der so oft als ungebildet Abgestempelte, weil seine Bildung, seine 'Formation' und geistige, auch ästhetische menschliche Entwicklung  unter den gegebenen Verhältnissen eine notwendig andere ist als die der 'gebildeten Schichten' (und so spricht man, unter Experten, von seiner Sprache auch von einem restringierten Code, als mache bereits die andere Sprache ihn blind für die Wirklichkeit und für sich selbst), er, dieser 'Zurückgebliebene', 'von Kultur Ausgeschlossene' findet andere Worte - authentischere? Mag sein. Auf jeden Fall findet er, karg zwar, Worte, um den Versuch zu wagen, auszudrücken, was er entdeckt. Denn um 'Entdeckung' handelt es sich. Eine, die sich nicht in jedem 'Bauern aus dem Bayerischen Wald', das heißt jedem Angehörigen der subalternen Klassen vollzieht - schon weil viele weder mit Danièles und Jean Maries Filmen in Kontakt kommen noch mit anderen filmischen Werken von großer Schönheit und Aussagekraft, noch mit der Musik Beethovens. Ihr vermeintliches und von ihnen selbst geglaubtes Desinteresse und ihre Abwehr sind auch historischer Ausdruck ihres jahrhundetelangen Ausschlusses von der Kultur der 'Gebildeten', das heißt, der herrschenden Klassen: eines Ausschlusses, der beruht auf der mit jeder intensiven Ausbeutung einhergehenden Müdigkeit. Aber auch einer intendierten Verdummung, die herausläuft auf von oben erwartete Selbstbescheidung (sogenannte Becheidenheit), oft sogar Beschädigung des Selbstwertgefühls, des Selbstvertrauens; in jedem Fall aber auf eine gesellschaftlich erwünschte Einengung der Interessen, der Kenntnisse und vor allem Kenntnisbereiche. Der 'Handarbeiter' soll nicht so viel denken, ausgenommen, wo es um die sachgemäße Verrichtung seiner Arbeit geht.

Ohne die Existenz einer Parallelkultur, einer Volkskultur, die sich (wie Gramsci, wie Ivan Illich, aber auch Pasolini erkannte) fortsetzt in Bräuchen, Gewohnheiten, Familiengeschichte, in oft örtlichem, sehr konkretem Wissen, aber auch in Mythen, im Sinn der Feste und dergleichen mehr -  ohne die Existenz dieser vielleicht nur noch (dank der Massenmedien) rudimentär vorhandenen 'anderen Kultur' wäre die Entfremdung der Massen von ihren Bedürfnissen, und das heißt auch, vom Wahrnehmen und tendeziellen, möglicherweise nur intuitiven Erkennen ihrer eigenen (statt der oktroyierten, aufgedrängten, aufgeschwatzten) Wünsche noch umfassender. Fortschrittlich, humanistisch zu nennende Intellektuelle und Künstler hätten von daher gesehen nicht zuletzt auch die Aufgabe von Archäologen der Volkskultur, die darin bestehen könnte, das heute weitgehen verborgene Fortexistieren des Wissens der Unterdrückten um ihre Bedürfnisse auszugraben, offenzulegen, indem sie 'die Unteren' zum Sprechen bringen über das, wovon dieselben vielleicht schon nicht mehr glauben, daß es einen Wert hat: Sie sprechen lassen, in ihren Filmen, Texten, ihrer Musik, von sich: ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart, ihrer Hoffnung. Von ihren Erfahrungen, von ihrem Leben und ihrer Weise, die Welt zu sehen, sie zu verstehen.

Erkennen ist keine akademische Übung, es ist ein zutiefst menschlicher, allen Menschen gemeinsamer, tagtäglicher Vorgang oder 'Prozeß', Wer, als Angehöriger der subalternen Klassen, als einer der 'Unteren', der 'Niedrigen' (wie Brecht sagte), der Musik Beethovens oder Bachs, Debussys oder eines John Cage begegnet, dem kann es, wie auch Schleuning zugibt, in der Tat geschehen, daß er, bar jeder Vorkenntnis, jedes bisherigen Kontakts damit (und daher um so mehr 'überrascht'),  "von klassischer Musik so bewegt"(4) zuhört, daß er ganz still und konzentriert ist. Daß er, für die Zeit des intensiven Hörens, existiert, als sei alles um ihn herum, die ganze unmittelbare physische Umgebung - Wände, Stühle, andere Menschen, ihre beiläufigen Worte, ihre Geräusche -  in Klammern gesetzt und es existiere nur diese Musik, der er aufmerksam, intensiv, mit allen Sinne, mit wachem Verstand und klarem Gefühl folgt. Sodaß es geschehen kann, daß alle Müdigkeit von ihm abfällt, daß er so hellwach, wie er es plötzlich wurde während dieser performance, weggeht von dem Ort ihrer Realisation, um nachzudenken, darüber. Oder immer noch bewegt davon von ihr zu sprechen. Oder, wenn er ein Schreibender ist (und auch sie gehen bisweilen aus den 'unteren Klassen' hervor), sofort und mit der größten ihm möglichen Präzision und Klarheit, zu Papier zu bringen, was an Gedanken, Gefühlen in ihm den Ablauf der Aufführung begleitete, während die Musik vorwärtsdrängte, sich zu erkennen gab in ihrer kompositorischen Struktur, ihrem zeitlichen Sein. 

Es ist wahr, diese Erfahrung mag nicht die Regel, mag heutzutage, wo die Medien uns pausenlos berieseln und abstumpfen, fast schon ein Glücksfall sein - Zeugnis der Bewahrung einer Unschuld des Hörens, einer fast 'unmittelbar' zu nennenden Fähigkeit, sich den Dingen, den Menschen und den Tönen der Welt gegenüber zu öffnen, wie sie spontan Kindern zueigen ist - solange man ihnen diese Unschuld, diese menschliche Fähigkeit nicht austreibt.

Und gewiß ist Schleuning nicht zu widersprechen, wenn er von jenen Anderen (allemal Erwachsenen oder zu früh 'erwachsen' gemachten Kindern und Jugendlichen !) spricht, denen das 'Ergriffensein' am Herzen liegt, ohne daß sie bereit sind, zu denken. So als sei Denken immer Denken von Spezialisten, von Experten. So als habe es je kleine nebensächliche Handlungen, alltägliche Situationen, ganz geläufige Gefühle gegeben, die nicht von einem Denken begleitet waren. Aber ihnen ist das Denken etwas erhabenes, so erhaben vielleicht, daß sie sich nicht mehr trauen, es für sich in Anspruch zu nehmen. Oder es, ist im Gegenteil, ihnen als kalte, glatte instrumentelle Vernunft gewisser Experten verdächtig geworden, und so haben sie sich zurückgezogen auf eine Position, die das Fühlen privilegiert, vielleicht sogar fetischisiert.
So zelebrieren sie dann eine 'Gefühlskultur', eine fraglos irrationalistische, und sehen ihr 'empfindsames' bürgerliches Menschsein bestätigt, wenn nicht verwirklicht, in ihrer sprachlosen, dem Denken ganz bewußt feindlich begegnenden 'Gefühlskultur', ihrer Sentimentalität. Sie sind es offenbar, von denen Schleuning schreibt, das Hören klassischer Musik mache sie "förmlich sprachlos".(5) Sie seien danach (oder sähen sich dann zumindest?) "erschüttert, durch ihre innere Erregung geradezu gelähmt". Und sie "reagier[t]en recht ungehalten, wenn jemand beginnt, über die Musik und die Hörreaktion"  [die ja übrigens keine Reaktion ist, lieber Peter Schleuning, sondern ein Akt, eine Praxis des Hörens!] sie zu befragen.(6)  Und damit sie bittet, die Musik zu reflektieren, über sie "Überlegungen" anzustellen.  Oder es seinerseits tut. "So eben ginge es gerade nicht, heißt es dann. Das heiße die Musik und ihren Eindruck zerreden. Was in der Musik drin sei, lasse sich eben nicht mit Worten sagen."(7) Und worüber man nicht reden könne, davon müsse man schweigen.

Ja, ich gebe es zu: in einem Punkt haben die, von denen Schleuning hier spricht, recht. Man kann etwas zerreden. Die bewußte, intellektuell und emotional klare Wahrnehmung eines Kunstwerks mag einen 'Raum der Stille danach' erfordern. Das verlangt der Verstand, der noch arbeitet, ebenso wie die Emotion. Es mag sein, daß in dem einen Individuum dieser Moment der Stille nur fünf Minuten oder drei oder zwei andauern muß; daß es überfließt in ihm, sodaß er 'sofort' in großer Intensität davon sprechen kann, was er gerade sah, hörte, wahrnahm, dachte und empfand. Dennoch: die nach einem zunächst notwendigen Zeit-Raum der Stille verlangen, haben recht - sie, die ihrer bedürfen, haben sie verdient. Und nichts ist vielleicht schlimmer, als wenn ihnen ein Dritter jenes Gehörte, Gesehene, Erfahrene, das in ihnen noch nach dem Ende seiner in der Zeit sich vollziehenden Realisation 'arbeitet', das nach Verstehen verlangt - EIGENEM, SELBST ERARBEITETEN VERSTEHEN (!), vermeintlich klug daherschwätzend zerredet. Schwätzer sind's schnell, die das Existentielle der Kunst nicht begreifen wollen - daß sie nämlich, als menschliche Praxis, menschliche Ausdrucksform Momente der historischen, gesellschaftlich geprägten Existenz von Menschen artikuliert. Sodaß sie allemal von Bedürfnissen, Wünschen, Sehnsüchten, von Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen spricht - nicht nur denen ihrer Schöpfer, sondern ebenso, dank der Aneignungspraxis der Rezipienten, von deren Bedürfnissen, deren Fragen, mit einem Wort, deren Leben: etwas das anklingt, im Sinne einer "Verschiebung" zwar, aber dennoch unverkennbar, in den Motiven und Kompositionsweisen des primären Kunstproduzenten.
 

Endnoten:

(1) Peter Schleuning, "Der Kleinbürger als Komponist, oder: Warum wir von Beethoven erschüttert werden" (Teil I), maschinenschriftliches, xerographiertes Exemplar des Textes der gleichnamigen WDR3 Sendung. Köln (WDR) o.J., S. 1

(2) Peter Schleuning, ebenda, S. 1

(3) Jean-Marie Straub, während einer Diskussion mit dem Publikum, nach der Vorführung eines seiner Filme (in Würzburg?)

(4) Peter Schleuning, ebenda, S. 2

(5) ebenda, S. 2

(6) ebenda, S. 2

(7) ebenda, S. 2
 

 


 
 
 
 
 
 
 
 

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