Jonathan Weidenfels
Paul Leducs "Reed - Mexico insurgente" Man hat eigentlich das Gefühl, es passiert in diesem Film nichts - jedenfalls nicht so, wie wir's gewohnt sind aus den Western. Das erinnert eher an Wochenschau, bricht so rasant ab wie diese - eine Einheit von mehreren Wochenschauen, die in sich nicht formlos ist - eine Art Dokumentarfilm (obwohl nachträglich gedreht - 60 Jahre danach?! - das kommt diesem Film nahe. Der Film ist in schwarz-weiß photographiert - eine
Geldfrage nicht zuletzt - und nachträglich getönt - was sehr
schöne Effekte ergibt - so das Sepia der Einstellungen am Anfang:
die mexikanischen Flüchtlinge an der Grenze USA-Mexiko - wogendes
Kornfeld, in dem der Wind sichtbar wird; die Sonne; das Licht deutlicher,
lebendiger, als ich es je gesehen hab - der Wagen, der zusammen mit dem
'Nachschub' für die Revolutionäre Reed aus den USA nach Mexiko
rüberbringt.
Lange Einstellungen (der Wagen, der Reed nach Mexiko bringt,
oder die Fliehenden, der laufende Reed nach dem "Colorado"-Angriff) bewirken
einmal eine große Ruhe - so in der formal an Expositionen, die einen
'Helden' einführen, erinnernden frühen Einstellung; zum anderen
sind sie eine 'lautlose' Art, die psychische Spannung unmerklich zu steigern:
ohne Dramatik und Pathetik allerdings, sondern 'roh' genug, um der tatsächlichen
Erschöpfung, dem psychischen Amalgam von Angst und der Unfähigkeit,
bei diesem Laufen zu reflektieren, zu entsprechen.
'Formal' erfaßt ist damit diese Art des Filmemachens
keineswegs. Strikt genommen ist sie mit dieser Deskription eingesetzter
Mittel, weil ihre 'bedeutungsmäßige' Funktion (weitgehend) ausgeklammert
wurde, nicht einmal formal adäquat beschrieben.
Was dem herkömmlichen action film jedoch fehlt, ist die Bestimmtheit eines Inhalts, der in dieser Atmosphäre der "Einstiegsruhe" des Films zugänglich wird - einer "Einstiegsruhe" übrigens, die im Gegensatz zum geläufigen action pattern hier schon Schritt 2 ist, nach dem Gewirr der Flüchtlinge in der Grenzstadt, wo wir Reed zum ersten Mal beiläufig & für Sekunden entdecken. Genau dieser Einstieg läßt den Anfang dann so 'ausgefranst' wie das Ende abrupt bleibt. Ist der herkömmliche Western oder action film relativ fest umrissen, kompakt abgeschirmt, so haben wir hier ein Fragment, etwas aus der Realität herausgebrochenes. Seine Bestimmtheit liegt in dem, was wir sehen wie auch in dem, was wir hören. Sie liegt erstens auf der Ebene des visuellen Inhalts: der Wagen bringt Waren. Was wir sehen, ist die 'amerikanische Unterstützung' der Revolution in Form des Geschäfts: dialektisches Pendant zur amerikanischen Intervention gegen die Revolution in dem Augenblick, wo das Geschäft dies erfordert: der Fall des erschossenen britischen Haziendero ist das Warnsignal, das Symptom der 'verletzten Interessen', das die Nachricht vorbereitet, die der sound track kurz vor Ende des Films bringt, nachdem diese Nachricht - der bevorstehenden Intervention - in Form einer gedruckten Notiz bereits erschienen war: vorgelesen von einem Journalisten aus der Zeitung: "Präsident Wilson hat den Kongreß gebeten...." Diese Thematik (des Geschäfts) macht, wie wir sehen, eine der Strukturierungen des Films aus: sie taucht auf - zwischendurch - in so vielfältigen und qualitativ verschiedenen Formen wie dem Mißtrauen der Bauernsoldaten gegenüber dem Journalisten, der schreibt statt zu kämpfen (in ihren Augen für Geld: sie kämpfen für ihre Freiheit, er geht einem Job nach, verkauft sich - also: ein 'Huertist'!), sie deutet sich an in der Frage, ob er, Reed, studiert hat und wo, ob man in Amerika Technik studieren kann (was den Wunschtraum Longinos vorwegnimmt, den Traum, eine Mine auszubeuten und reich zu werden), und dann schimmert sie durch in dem Plattenspieler Urbinos, der Bemerkung eines Soldaten: "so reich sein wie Urbino..." Das heißt, sie taucht auf der Seite der Revolutionäre auf. Und sie taucht auf der Seite der Konterrevolution auf, in Gestalt der Interessen der ausländischen Mächte und der Kompradorenbourgeoisie; und etwas davon wird auch spürbar in den Worten des Lehrers, der sich der letzten Revolution erinnert, des Tamtams, das Diaz für die Revolution veranstaltete, während sich an der 'feudalen' Struktur auf dem Lande nichts änderte. Und ist es nicht auch das 'Geschäft', das zum Vorschein kommt, wenn die Rede ist von jener Kategorie der 'Scheißkerle', die Villa benennt? -: Karriereoffiziere, die wissen müßten, auf welcher Seite das Recht ist, und die sich aus Egoismus verkaufen... Verbal erscheint - zweitens - die gleiche Thematik, von der die 'Bauernsoldaten' oder ein Villa sprechen, auch in den Worten der 'Anderen'; sie erscheint hier als Widerspruch, innerhalb der Bourgeoisie: Der Händler, der die Revolution versorgt, um an ihr zu verdienen, vertraut Reed an, daß San Fran[cisco] eine Scheißstadt ist, "weil dort die Chinesen alles beherrschen"... Sein Himmel ist El Paso - denn, wenn das Geschäft weiter floriert, dann hat er eine Chance, zu den Leuten zu zählen, die El Paso beherrschen. Die dritte Ebene des Inhalts dieser Anfangsszene wird möglich durch das formale Mittel der Unterbrechung: der "Irre" mit dem Gewehr, der plötzlich auf der Straße steht. Im action film wäre dieses Mittel fetischisiert worden: die Bedeutung der Unterbrechung läge in der Spannung, in der formalen Art, diese zu erzeugen. Die ideologischen Inhalte von Konformität und internalisierter Gewalt, die sich als legal ausgibt und gegen Illegalität absetzt, oder auch von Eigentum, bleiben dort (im Western; im action film) der Struktur der 'Spannung' gegenüber eher beliebig; Form (action film) und Ideologie vermengen sich zwar, aber der Gebrauch der Formen (der action Elemente), das ist letztlich irrational und nicht bewußt eingesetzt zum Transparent-Machen ideologischer Inhalte. In Leducs Film ist das anders. Hier 'bedeutet' die Unterbrechung
in der ersten Szene zweierlei: sie versinnlicht auf der Ebene des
'Einzelnen' den universellen Humanismus der Bourgeoisie, nämlich die
Moral des Krämers - und das heißt zugleich das, was das Fundament
der momentanen Unterstützung der US-Geschäftemacher für
die Revolution ist: - weil der Mann, der auftauchte, 'irr' und damit unberechenbar
ist, und weil er ein Gewehr hat (wie die Gefahr eingeschätzt wird,
zeigt die Bemerkung an Reed, der den Alten photographieren will, das sei
riskant, der Irre könne ihm eine Kugel verpassen): aus diesem
und keinem anderen Grund gibt der businessman ihm einen Maiskolben.
Das ist aber schon Teil einer weiteren Bedeutung
dieser Unterbrechung: wir erfahren etwas über die Bedingungen, unter
denen die Revolution verläuft - erfahren etwas über das Land
und seine Menschen: die Exempel eines Nicht-Aushaltens des Kampfes, das
Beispiel des "Irr-Werdens", die neurotische (?) Form des "isoliert Den-Kampf-Weiterführens"
jenes Alten (gegen den regelmäßig durchkommenden Amerikaner,
der Urbinos Truppen verproviantiert); schließlich: die Unterernährung.
Dies alles erhellt sich wechselseitig.
Sieht man den Film als ganzes, so gehört dies Aufzeigen der Bedingungen, unter denen diese Revolution von statten geht, zu einem seiner beiden Themenkomplexe: jenem, der dem zweiten Teil des Filmtitels entspricht: Mexico insurgente - Mexiko im Aufruhr, im Prozeß der Revolution. Der Film ist hier desillusionierend, ohne defätistisch zu sein. Er ist klar genug, um für die "Massen", nicht für die "Intellektuellen" zu sein, weil es "einfache Leute", die "Massen" sind, die in ihren Worten die Schwierigkeiten und Aufgaben artikulieren. Das zweite Thema ist das des Intellektuellen, des "Journalisten" und "politischen Aktivisten" Reed nämlich, der von außen kommt, über sein schlechtes Gewissen spricht, von der Revolution, von der er spürt, daß nicht er, sondern die Massen sie machen, während er weiß, daß er anders ist als sie, eine andere Vergangenheit hat. Daß er privilegiert gewesen ist und darum noch immer privilegiert ist - was sowohl ein Schuldgefühl impliziert wie eine Verantwortung: die Verantwortung, mit diesem Schuldgefühl fertig zu werden, die Solidarität mit den Massen zu bewahren, auch da, wo sie ihn ausschließen, ihn mit Mißtrauen betrachten. Daß es gilt, den Job zu tun, den er tut - für und nicht gegen die Revolution (oder gleichgültig, ihr gegenüber). Einen Job, den nur er (weil er privilegiert war) und nicht die Massen - jedenfalls jetzt noch nicht - tun können. Insofern ist das auch eine Frage, eine Problematisierung nämlich, des Verhältnisses von 'sozialistischen Intellektuellen' und 'Massen' - eine Beziehung, die hier ohne alle Idealisierungen analysisiert wird, die sowohl das Ausgeschlossensein ("Huertist!" - der Bauernsoldat spuckt ihn an, er hat kein Verständnis für diesen 'Lumpen' Reed, nachdem dieser auf die Frage: "Wirst du die Waffe in die Hand nehmen und mit uns kämpfen?" geantwortet hat: "Ich habe einen anderen Auftrag") wie die Freundschaft - zu Longino - impliziert: Longino, der sich für ihn einsetzt. Erinnern wir uns der Steigerung, im Gespräch mit Longino: "Wir sind Freunde", dann: "Wir sind Gevattern", dann: "Brüder" - ein Thema der Verbrüderung, das später, in anderem Kontext, fortgesetzt wird, als Reed von den Wachen an der Brücke spontan angerufen wird: "Laß ihn, der ist tot, Gevatter!" Diese sich ihrer Herkunft nach so 'fremden' Menschen, an der Brücke, sind sich sofort, nachgerade spontan, nah, weil sie sich auf derselben Seite wissen. Etwas, das versinnlicht wird dadurch, daß, während des Angriffs, nachdem sie sich aus den Augen verloren haben, sie sich 'zufällig' hinter der gleichen Bodenwelle wiederfinden: die zwei mit ihren Karabinern, in der Mitte der Kriegskorrespondent, der über ihre Revolution berichten wird. Der andere, schon genannte Themenkomplex zeichnet sich wie der das Verhältnis von Intellektuellem und "Massen" betreffende durch eine Ambiguität aus, die eigentlich eine dialektische Spannung ist. Nehmen wir Longino: er kämpft für die Revolution, er erweist sich praktisch als solidarisch gegenüber dem gringo Reed, was objektiv (wie man so schön sagt) revolutionärer ist als der Rigorismus des Revolutionärs, der Reed fragt: "Willst du mit uns kampfen - oder nicht?", auch wenn es subjektiv als Grundlage vielleicht ein Bewußtsein impliziert, das eingenommen, nämlich geblendet ist, von der 'Fortschrittlichkeit' der USA. Sein 'subjektives' Bewußtsein - könnte man, in dieser abstrakten Dichotomie von 'subjektiv' und 'objektiv' verharrend, sagen - ist der Revolution noch unangemessen, begreift diese nicht; er sieht sich als Minenbesitzer, als "reich".... Aber was heißt das? Wie weit kann man das denn zählen? Zählt etwa die Angst, von der Reed zugibt, daß er sie hat, als er betrunken ist? Oder zählt vielmehr, daß er - als Journalist, waffenlos - ganz vorne ist, der Gefahr ausgesetzt wie jeder der Revolutionäre? Zählen Longinos "Wunschträume", die er - gleichfalls besoffen - von sich gibt, die doch vielleicht nur der schlechte, schiefe, inadäquate, nach Bildern und Worten suchende Ausdruck seiner Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben, frei von Mangel und Not, sind? - Oder zählt, daß er für die Revolution fällt? In den Augen der "Reichen" jedenfalls: ein "armes Schwein"... Sicher, mit dieser eindeutigen Praxis der Aufständischen korreliert oft eine Art Sprachlosigkeit. So, wenn Reed im Hauptquartier von Gen. Urbino die Stabsoffiziere (alle zwischen 20 und 30) fragt: "Was ist Freiheit?" und sie ihm antworten: "Wenn du das nicht weißt, warum bist du dann hier?" Was anscheinend die einzige aufrichtige und vollständige Antwort ist, die sie ihm geben können, weil sie eine gelebte Erfahrung beinhaltet - verknüpft mit, durchtränkt von dem Gefühl, dieser Vorstellung dessen, wofür sie real, fühlbar kämpfen, ohne daß sie wirklich wissen können, wofür sie kämpfen. Was dann die insisistierende Wiederholung der Frage Reeds zeigt: "Aber ich will es von euch hören!", die nur unzureichende Artikulationsversuche erbringt, dank derer sie sich - im Gefolge weiterer Fragen - schnell in Aporien verstricken: "Tun und lassen können, was man will..." "Und wenn es die Freiheit eines anderen verletzt?" "Dann setz ich mich durch - mit Gewalt." Diese Schwierigkeit, konkret zu wissen, was die Revolution bedeutet, was sie bedeuten kann, erscheint immer wieder: bei dem verunsicherten Priester, der davon spricht, daß Gott in Spanien gütiger ist als in Mexiko und der nur ein "Wer weiß..." auf den Lippen hat, oder bei dem desillusionierten Lehrer im Dorf, der sowohl für die erste wie jetzt die zweite Revolution in seinem :Leben gekämpft hat und der ahnt, daß die kleinen Leute die Zeche werden bezahlen müssen, der also sehr pessimistisch ist, was sich und die Leute, die um ihn herumstehen und die ihm zuhören, angeht. Und der doch gleichzeitig optimistisch ist, wenn er sagt: "Unseren Kindern, oder deren Kindern wird das Land gehören." Womit er als einziger, klarer als alle Revolutionsgeneräle, das Bewußtsein der Massen artikuliert, die das Problem und Ziel der Revolution als ein Problem des Landes, des Widerspruchs von Großgrundbesitzern und landlosen Bauern begreifen: das heißt, der Revolution ihre untergründig sozialistische Perspektive geben, wie sie außer von ihnen bloß noch von den Hazienderos und den intervenierenden ausländischen Mächten erkannt wird. Jedenfalls stärker, so scheint es, als von Carranza, dem Präsidenten der Revolutionsregierung, der tatsächlich oder aus taktischen Gründen die Augen davor verschließt. Die Generäle - überhaupt die Soldaten, die zu Wort kommen - scheinen diesen Aspekt der Revolution wenig zu begreifen. Sie neigen eher zu der Auffassung, daß, wenn militärisch alles gut steht, auch sonst alles gut steht - wenn es dagegen militärisch schlecht steht, auch sonst nichts gut stehen kann. Trotzdem: Fragen wie die von Spontaneität und Erstarrung, Institutionalisierung, sind keine Randfragen der Revolution. Und wenn Villa sagt: "Zuerst waren wir bloß 'Banditen', alles ging wie von allein; wir waren wie die Wespen, die irgendwo zustachen und wieder verschwanden; dann aber, langsam, wurden wir stärker und sie schwächer; es wurde Disziplin erforderlich, Regeln usw.", dann zeigt das ein qualitatives Umschlagen auf, eine Problematik, der sich jede Guerilla-Bewegung, überhaupt jede Revolution, die siegen will, stellen muß: etwas, gegen das sie sich einerseits absichern muß, um Herrschaftsverhältnisse, die den alten fatal gleichen, vorzubeugen, und auf das sie sich andererseits vorbereiten muß, als auf einen Übergang, von einer Form zu einer neuen, die schwierig zu finden sein wird, die aber um nichts weniger revolutionär sein darf als die ursprüngliche, spontane. Übrigens, die Disziplin, die Villa in jener neuen
Stufe einführt, hebt sich wohltuend ab von jeder bürgerlichen,
und die Art, wie er sie (im Film) durchsetzt, bekräftigt das:
Dabei kommt sehr klar heraus, daß es nicht eine Frage ist, ob man in einer Revolution Generäle hat oder nicht, sondern, was für Generäle man hat. In einer bestimmten Beziehung - etwa, was die Art zueinander zu sprechen, über Probleme zu reflektieren, angeht - behandeln sich diese einfachen Soldaten und Villa als absolut gleiche, sind absolut gleich. Ihre Würde ist die gleiche, der Ton drückt Gleichheit, Kameradschaft, Solidarität aus. Ihre Verantwortung vor der Revolution ist gleich, aber trotzdem - funktional - eine andere: der eine hat - im Augenblick - Brot zu backen oder tut etwas vergleichbares; das ist seine Verantwortung vor der Revolution; der andere, der General, hat ihm nicht einfach zu befehlen, Brot zu backen, sondern auch zu erklären, warum das für die Revolution notwendig ist. Solche Formen, in denen neue Formen der praktischen Solidarität,
der Gleichheit und Verantwortung sich realisieren, zählen -
was den zukunftsweisenden Zug des Films angeht - so sehr wie das Bewußtsein
der Inadäquanz, das Villa artikuliert, als er sagt: "mit dem neuen
erreichten Niveau des Kampfes ist Strategie und Taktik notwendig geworden.
Ich verstehe von beidem nichts. Ich sehe so weit, wie das Schlachtfeld
reicht. Was darüber hinaus passiert, sehe ich nicht."
Verglichen mit solchen Entwürfen der Phantasie einfacher,
ländlicher Menschen wie sie das Konzept der dynamitgefüllten
Schilfröhren an Wagenrädern darstellt, ist die Feststellung Villas,
daß er nichts von Strategie und Taktik versteht, ein enormer Schritt
vorwärts: in Richtung auf eine Bewußtwerdung, auch auf ein Begreifen
von Strategie und Taktik. Sicher, er spricht jetzt von einem toten Kollegen,
der ihn aus den Bergen geholt hat, dem er unendlich viel verdanke, dem
er es verdanke, kein Bandit mehr zu sein, sondern ein Revolutionär:
"Solche Leute wie er sind unersetzbar." Ja, sie sind es; aber eben, weil
es sich um eine konkrete historische Situation handelt, in der die Leute,
die bestimmte Sachen begriffen haben, noch rar sind: damit wird nicht ein
für alle Mal die 'natürliche' Notwendigkeit einer Avantgarde
postuliert, genauso wenig, wie sich eine abstrakte Dichotomie von "Aus
der Praxis lernen" und "Von der Avantgarde lernen" ergibt. Daß Villa
von jenem Kollegen lernte, war ein Teil seiner praktischen Erfahrung, die
ohne die Existenz dieses Kollegen und ohne das, was dieser ihm vermitteln
konnte, ärmer gewesen wäre...
Dieses Bewußtsein Villas ist im Film kein herausgehobenes; es wird die Problematik der Revolution bei den einfachen Soldaten, den Bauern, den Stabsoffizieren, bei Reed, mithin überall reflektiert. Daß da zu wenig Leute, zu wenig Ressourcen sind. Daß die bewußtseinsmäßigen Schwierigkeiten groß sind. Daß man konkret sein muß und nicht abstrakt. Da ist die Konfrontation mit den Großmächten,
die in Den Haag beschließen, keine Bleikugeln zuzulassen, die Waffen
an die Revolutionäre verkaufen, die schließlich - gegen diese
- intervenieren, die ein Jahr nach der Intervention in Europa Gas einsetzen,
ihren eigenen Papieren zum Hohn.
Solche Integrität ist gleichzeitig begleitet von
ihren Vereinfachungen, die wieder einen praktischen Grund haben: So wenn
Villa die "Scheißkerle", die gegen die Revolution kämpfen, in
drei Kategorien teilt:
Der Film ist weit davon weg, die Massen widerspruchslos zu zeichnen, oder sie zu reduzieren auf ein Instrument der Revolution, das - "richtig" (von einer Avantgarde) "programmiert" - schon richtig funktioniert. Die Massen machen in der Tat die Revolution, wenn die Bedingungen sie dazu veranlassen. Aber - die Massen, das sind lebendige Menschen. Da ist der unbedingte Revolutionär, der Reed fragt: "Wirst du mit der Waffe kämpfen - an unserer Seite?" Und da ist auch Longino, der sich zu dem Amerikaner hingezogen fühlt, der noch seinen Traum vom Reichtum hat (und trotzdem nicht mehr der ist, von dem es in Edoardo Brunos Film La sua giornata di gloria heißt: "Er ist ein Feind - mit dem Bettelstab in der Hand. Er verteidigt den Besitz, den man ihm gestohlen hat. Es wird Jahre dauern, diese Leute umzuerziehen." Longino, der vom Besitz träumt, verteidigt nicht den Besitz; praktisch, als Soldat der Revolution, bekämpft er ihn. Aber etwas in seinem Denken ist noch weit weg von der Praxis, bei der er schon angelangt ist: wird man ihn "umerziehen" müssen? Ist "Umerziehung" denn überhaupt ein Weg, den man gehen darf? Ist nicht die Praxis - die Erfahrung in der Gruppe, im kollektiven Zusammenhang - die wirkliche, freie Schule: und jede Schule des Zwangs nur ein Ort der Verbiegung, Produktionsort der Lügen und der Verstellungen, der Maskeraden? War Longino wirklich auf dem Weg zum Minenbesitzer? Wir können es nicht wissen, die Praxis hätte es erwiesen. Aber in dieser Praxis, im Kampf, hatte sein Prozeß der Selbst-(um)-erziehung und der Formung, angesichts der Umstände, schon begonnen. Was ihm die Kollegen beibrachten, es wäre immer bloß ein Teil jener Erfahrung gewesen, die er für sich gewählt hatte. Er wäre nie ihr einfach ausgeliefert, nie ihr bloßes Objekt gewesen. Diese Ambiguität ist nicht kleinbürgerlich: sie ist Ausdruck einer stoßweisen, eruptiven, abrupten Entwicklung, in der ein neues Niveau erarbeitet wird, in der die Massen auf etwas Neues hinarbeiten - nicht alle gleich, nicht einmal als Einzelne kohärent. Sondern gerade definiert durch die Widersprüche, die sie einbringen in die Situation, und die sie einer Veränderung unterwerfen, in ihrem Kampf, sei es als Revolutionäre - oder als gepreßte Soldaten des Huerta-Regimes. Denn: die gemeinen Soldaten der Huertisten. Auch das sind "die Massen". Viele von ihnen werden sich, gefangen und von den Revolutionären laufen gelassen (sofern man nicht doch den einen oder anderen - trotz aller von Pancho Villa erläuterten "Regeln" - erschießt) zweifellos aus der Verantwortung vor der Geschichte davon zu stehlen suchen und sich verkriechen. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß die revolutionäre Moral ihnen gegenüber Solidarität erforderlich macht; daß sie es sich aber (so deutet wenigstens eine zentrale Figur der Revolution - der General Pancho Villa, im Film an) vielleicht gar nicht leisten kann, zwischen gutmütigen und bösartigen Ausbeutern zu unterscheiden, wenn d a s (und in dem Maße wie d a s ) den praktischen Erfolg der Revolution gefährdet. Ein Sichtbarwerden solcher revolutionären Moral habe
ich auch in einer eigenartigen Szene entdeckt: eine Frau kommt nach der
verlorenen Schlacht gegen die "Colorados" zu Reed. Sie fragt ihn: "Ich
hab gestern Nacht bei dem Tanz mit Ihnen getanzt; kann ich heute Nacht
bei Ihnen bleiben?" Er sieht sie an. Sie ist - nebenbei - schön, aber
wahrscheinlich macht der Widerstand schön, so wie die Menschen nicht
nur mit der Bestimmung zur Freiheit, sondern auch schön geboren werden.
Reed sieht sie an, sieht den Mann, der hinter ihr steht: Ist das ihr
Mann? - Ja. Nein.
21/6/73 |
Paul Leduc, "R e e d - Me x i c o insurgente" (Mexiko
1973)