Andreas Weiland
 

Pavel Branko's Reflexion über Dokumentarfilm als Kunstform und die Dokumentationen der Massenmedien

Pavel Branko’s Artikel DOCUMENTARY FILM AS ART AND DOCUMENTATION IN THE AGE OF MASS MEDIA gefällt mir.
Was ich besonders an ihm mag, ist, daß der Artikel als Frage – er gibt also dem Leser etwas zu denken – das Problem aufwirft, ob die “Flachheit”, der Mangel an visueller Kraft, damit auch an emotionaler Kraft (und, wie ich meine, an intellektueller Schärfe, an kreativem intellektuellem Potential, das “durchschnittlich” Gedachte infrage zu stellen”, ob also die Mittelmäßigkeit (und wird diese erreicht, ist das schon sehr viel) der Non-Fiction Filme ein strukturell bedingtes Resultat der Verfaßtheit der Massenmedien ist?

Pavel Branko zeigt den Widerspruch zwischen (künstlerischen bzw. dem Filmkünstler zur Verfügung stehender, film-technischer) PRODUKTIVKRAFTENTWICKLUNG und den offenbar zu vermutenden (dafür benennt er Indizien) GESELLSCHAFTLICHEN SCHRANKEN, diese erweiterten Möglichkeiten der fortentwickelten Produktivkräfte auf dem Gebiet des Films, hier, des Dokumentarfilms, auch zu nutzen. 

In einem kleinen Punkt (oder ein, zwei Punkten?) scheinen wir, auf den ersten, aber vielleicht nur den ersten Blick, leicht divergierende Einschätzungen zu haben.

Pavel Branko schreibt, daß der documentary film as a form of Art [als eine Form der Kunst, Kunstform] VOR ALLEM vom VISUELLEN lebt, und der massenmedientypische Non-Fiction-Film von den additiv lose aneinander gekoppelten – irgendwie aber nicht überzeugend (etwa durch eine Dialektik der Montage, wie bei Wertow, auch – in gewisser Weise – bei Eisenstein?), nämlich „zwingend“  aufeinander bezogenen und somit  nicht  „dicht“ verzahnten – visuellen Sequenzen, denen erst die Narration (der Ton, das gesprochene Wort, voice over usw.) den ANSCHEIN einer EINHEIT, einer organischen, tiefergehenden, begründeten Kontinuität verleiht: wie gesagt, bloß den Anschein, denn in Wirklichkeit bleibt es ein Diskontinuum von lieblos, schnell und ohne Gespür für die visuelle Wahrhaftigkeit der „images“ (ihre Ausdruckskraft) „zusammengeflicktes“ Machwerk, in welchem die Linearität des gesprochenen Textes  Kontinuität und Logik suggeriert.  Pavel Branko schreibt: der documentary film as art, [der Dokumentarfilm als filmische Kunstform] das bedeute ein Werk, dessen Einheit konstituiert wird durch die Emotion; der jenseits dieser Kunstform angesiedelte, in verschiedene Untergattungen zerfallende, sonstige Non-Fiction Film, ein Werk, dessen Einheit konstituiert wird durch LOGIK.

Und genau hier, an dieser Stelle, obwohl ich in allen wesentlichen Punkten den Autor dieses nachgerade klassischen Textes zu verstehen glaube und mich mit ihm d’accord weiß, schlage ich eine winzige Präzisierung vor: der massenmedientypische Non-Fiction Film wird, meiner Meinung nach (ja,  Pavel Branko hat recht: in der Tat eher durch das Wort als das Visuelle, das nur „illustriert“, nur „Beiwerk“ ist) – wodurch? :  durch die sogenannte, von den Massenmedien produzierte und reproduzierte mainstream logic [also in DIESEM SINNE: von LOGIK]; er wird mithin konstituiert durch die sich als „nicht-ideologisch“ gerierende Ideologie, durch das vorherrschende Denken unserer „liberalen“ (oder „post-liberalen“?) Gesellschaften. Eine solche AFFIRMATIVE ‚LOGIK’, die keine Risiken eingeht, besitzt auch keine „Sprengkraft“, nichts Aufrüttelndes, Wachmachendes, Infragestellendes, Kritisches. Besitzt keine ‚force’ [Kraft], weder emotional noch visuell noch – intellektuell, da alles „Kritische“ an ihr nur inszeniertes Getue, nicht etwas Tiefergehendes, Authentisches ist. In DEM Sinne also spreche ich den ganz offensichtlich von einer art LOGIK (vom WORT, von der NARRATION) dominierten massenmedientypischen NON FICTION FILMEN die LOGIK (als etwas KRITISCHES, WACHES, und WACHRÜTTELNDES) ab. Und im selben Sinne, mich auf einen holländischen, auf den ersten Blick sehr idealistisch und formalistisch erscheinenden Künstler, Piet Mondrian, berufend (der von der Anthroposophie angeblich beeinflusst war? – der aber auch den frischen Geist seiner Zeit, der Zeit des Widerspruchs, des DADA, des Anti-Kriegs-Denkens und Fühlens und künstlerischen Arbeitens und eines dem imperialistischen Europa und SEINER durch den Krieg usw. diskreditierten „Zivilisation“ gegenüber kritischen Denkens – vor allem wohl kurz nach 1918 – „atmete“?), schlage ich vor, daß wir uns an Mondrians Ausspruch über den „neuen Menschen“ erinnern: im Grunde einen Ausspruch darüber, was der Künstler sein sollte, und was jeder Mensch als zur Kunst befähigter, kreativer sein sollte und könnte und irgendwann vielleicht, als „freierer“ [denn derzeit im Normallfall möglich] sein wird. Mondrian sagte über diesen (ihm als Ziel, als Vision vorschwebenden) „neuen“, von der Last des Diskreditierten befreiten, emanzipierteren Menschen: „wenn er fühlt, denkt er, und wenn er denkt, fühlt er.“ Also: er überwindet die Trennung, welche die psychischen Äußerungen und Möglichkeiten des Menschen kompartmentalisiert, dissoziiert. Und ich denke, in diesem Sinne haben sie alle: Wertow, Eisenstein, Godard, Straub/Huillet, Chris Marker, Robert Kramer, die Trennung überwinden wollen, zwischen DENKEN (WACHEM VERSTAND, FRAGENDEM, INFRAGESTELLENDEM, KRITISCHEM VERSTAND) und EMOTION (als Bastion des AUTHENTISCHEN – nicht als das, was sie, in einer Verschiebung, Deformation ihrer selbst, AUCH ist: Spielplatz der Manipulationen, der Verführungen durch sogenannte Rattenfänger, die aber alle nicht erfolgreich sein könnten, wenn die Menschen sich nicht konditionieren lassen würden – auch durch die Massenmedien – zum sich DUCKEN; wenn sie sich nicht KONDITIONIEREN LASSEN WÜRDEN zum WARTEN DARAUF, „UNTERHALTEN ZU WERDEN“, oder darauf, andere „FÜR SICH DENKEN ZU LASSEN“ usw.). Die  starke EMOTIONEN wachrufenden IMAGES bei Chris MARKER haben auch den Sinn, die Konsequenz, daß sie zum Denken provozieren: die BILD-MONTAGE etwa: soll sie nicht gerade den Zündfunken AUCH des DENKENS, und nicht nur der EMOTION abgeben?

Noch etwas: ich gebe Pavel Branko recht, daß gerade dieser Widerspruch typisch für mass media typische Non-Fiction Filme ist: sie sind langatmig, schleppen sich in dem Sinne hin, daß sie shallow emtions [flache Emotionen], eine ästhetisch schwache BILDSPRACHE präsentieren, während sie gleichzeitig (bei geringen Kosten = wenig verdichteter Arbeit ihrer film directors, etc.) möglichst viel SENDEZEIT füllen sollen.

Aber zugleich enthalten sie, denke ich, oft den Widerspruch, daß sie bei aller insofern bestehender Langatmigkeit (= Mangel an Intensität, ästhetisch, intellektuell, emotional) oft doch sehr nervös erscheinen: schnelle, aber letztlich beliebige (also nicht wie bei WERTOW logisch und emotional zwingend, und damit zugleich „überraschend“ [Gefühle und Gedanken „provozierend“] KOMPONIERTE) Schnittfolgen, eine Hektik, weil angeblich der Zuschauer eine bestimmte Sache nicht länger als eine kurze Zeit sehen kann. (Ähnlich: Wortbeiträge im Radio: sie „dürfen“ nicht länger als 3 Minuten sein; dann kommt Musik, und danach etwas anderes. Aber der „ideological thread“ [der ideologische Faden]  der Sendung bleibt erhalten, garantiert die Kontinuität des Ganzen, in seiner flachen Banalität...)

Ich weiß nicht, ob ich deutlich machen kann, worin ich minimal abweiche von Pavel Branko’s Systematik, die gegenüberstellt: LOGIK vs. EMOTION. Ja, im Prinzip hat er völlig recht. Doch die Logik ist die des vorherrschenden, gängigen, flachen Denkens, und wo sie auf emotionale Art manipulativ wird, sind die Emotionen auch flach, banal. Die Bildsprache ist Resultat schnellen, lieblosen Arbeitens, das nur wenig Zeit (und damit Geld) kosten darf. Massenprodukte, Fließbandfertigung. Vorgestanzte Produktionsrezepte. Wie viel davon haben ADORNO und HORKHEIMER bereits in ihrer Dialektik der Aufklärung zu den Routine-Modellen, den vorgfertigten Paradigmen des angeblich Normalen gesagt...
Andererseits, und hier wiederhole ich mich erneut, die EMOTION der überzeugenden documentaries, die als Kunstform gelten wollen und müssen, schließt das wache Denken nicht aus: provoziert es geradezu und wird davon begleitet. Wir kommen an bei etwas Wahrhaftem, Authentischen (auch in uns selbst), wenn wir diese Filme PRODUKTIV REZIPIEREN, und wir spüren zugleich mit der Schönheit der Bilder, der (An-)Spannung, die liegt in ihrer Montage, auch so etwas wie neue, sich vorbewusst anbahnende Einsichten, die nach Worten suchen, um sie auszudrücken, die also nicht schon in der Routine des Leicht-Dahingesagten gefangen und entschärft und um ihre aufrüttelnde, hellwachmachende Wirkung gebracht sind.

Vielleicht ist es das, was mir gerade auch Pavel Branko’s Aufsatz noch einmal klar gemacht hat, denn in vielem nimmt er – explizit oder implizit – das hier Nachgedachte vorweg.

(Dieser Text ist die leicht editierte Version eines e-mails an Pavel Branko  vom 27.2.03. )