Andreas Weiland
 
KÖRPERSPRACHE. Eine ‚Organkomposition’ von Dieter Schnebel, uraufgeführt in der Neuen Galerie in Aachen am 24. März 1986

EINE NATURGESCHICHTE MENSCHLICHER KÖRPERSPRACHE nennt er, Schnebel, sie und sagt, kurz danach, dies sei eine Art – beinahe geräuschloser – Musik (silent music). Hat man seine Musik gehört, weiß man, ahnt man zumindest, was er meint: daß die Kompositionsverfahren, denen diese Musik sich verdankt, auch hier am Werk sind, wo es sich um einen Ablauf von Bewegungen weder singender noch sprechender noch sonstwie mit den Artikulationsorganen Geräusche erzeugender Körper in der Zeit handelt. 

Hier wie dort ist Zeit strukturiert, und erscheint in Kompositionen wie ‚Maulwerke’ vor allem die Stille als Begrenzung von sich verlangsamenden und beschleunigenden – Tonqualitäten verändernden, Bezüge zwischen kombinierten und kontrastierenden Klangfarben, Tonhöhen, Lautstärken variierenden – Abläufen der Artikulation dreier ‚Sprecher’ oder ‚Sänger’ oder ‚Tonproduzierer’, so ist es jetzt das Dunkel, das die Bewegungen visuell (beinahe) auslöscht und neben und vor der Stille am deutlichsten zäsurenbildend, das heißt, als Schnitt- und Fusionspunkt wirkt.

Innerhalb der Teile des Ganzen, die so sichtbar/fühlbar/verstehbar werden, stehen wieder Veränderungen (changes) und Spannungsverhältnisse (tensions) sowie die Dynamik, die diesen eigen ist, im Vordergrund. Mit „changes“ sollen hier die Veränderungen in der Zeit gemeint sein: sich ändernde tempi, sich ändernde Energie der Bewegung usw.: Phänomene, die in der einheitsbildenden  Erfahrung, im Erlebnis (und Bewußtsein des Erlebnisses) als in Beziehung zueinander gesetzt und somit spannungsgeladen, Spannungen produzierend erscheinen. Mit „tensions“ die Relationen im Raum, in ihrer Simultaneität: die Bezogenheit der Körper, ihrer (wechselnden) Formen, ihrer Bewegungen, in einer Art Momentaufnahme isoliert und korreliert zugleich. Dies sind einigermaßen willkürliche Definitionen, die versuchen, dem Verlangen nach sprachlichem Ausdruck, nach verbaler „Wiedergabe“ (Reproduktion) der Erfahrung einer sich in Raum und Zeit ändernden, strukturierenden/strukturierten Realität (des Werks) approximierend gerecht zu werden. Sie scheinen dem Dilettanten, bar jeder technischen Terminologie, als genauso geeignet, die musikalische Realität neuerer (und vielleicht aller) Musik zu beschreiben wie strukturierte, in der Zeit realisierte Kunstwerke (Film, Theater, Tanztheater, Organkomposition, Tanz usw.) überhaupt. Sie leisten fast nichts, geht es darum, die Veränderungen  in uns, Zuschauenden, zu erfassen – oder die präzise Art der Veränderungen im Werk zu bestimmen, die sie auslöst: die Übergänge vom Wahrnehmen/Erfahren einer unglaublich von allem Aufgesetzten, bloß Dekorativen gereinigten, klaren Schönheit, die einem fast den Atem nimmt, zu Momenten der Neugier, des Humors, oder der Entzifferung von etwas, das vielleicht Ironie signalisiert.

Ich erinnere mich jetzt an die Frau auf der Bühne – ihr Körper gekrümmt zu einem schönen Oval, in schaukelnde Bewegung versetzt, einer geometrischen Figur gleich, wie sie Arp hätte schaffen können, während im Hintergrund, rechts, links, zwei Männer auf dem Boden liegen: Kontrast, der die Wahrnehmung der „entgegengesetzten“ Zustände schärft, insofern jeder die abweichende Erscheinungsform des anderen erhellt.

Dieses Prinzip schien wiederholt angewandt: besonders deutlich, wenn, nach einem schnellen Positionswechsel der drei Spieler (Akteure)  in der zäsurierenden Dunkelheit, deren „Geschehen“ zwei Teile zugleich verbindet, die Figuren in fast absoluter Bewegunglosigkeit verharren. Die Frau, hockend, vor der Schüssel mit Wasser, wie ein Standphoto, ein Einzelbild eines angehaltenen Films:  so deutlich wahrgenommen in dem Einhalten der Bewegung, daß dieser eine Moment isoliert erscheint –  herausgenommen aus jedwedem Ablauf –  und der Wahrnehmung in einer poetisch-objektivistischen Klarheit präsentiert.  Und zwar zugleich mit dem Gefühl des Wechsels, der sich vollzogen hat, des Umschlags, der in uns – als Emotion – nachwirkt: die Unruhe des Positionswechsels im Dunkel steht gegen das mitten in der Bewegung Erstarrte der nachfolgenden Sequenz. Die Bewegung überlagert in uns die Stille, das Unbewegte. Wirkt weiter. Und lässt zugleich den veränderten, neuen Zustand schöner, klarer, deutlicher erscheinen.

Dann wiederum löst sich der Zustand des langanhaltenden An- und Innehaltens auf: Die Darstellerin geht spielerisch um mit dem Wasser in der Schüssel vor ihr; das Fließen der Bewegungen der Hände und Arme, die Wasser schöpfen, die emporheben und loslassen, das Fließen oder „Regnen“ des nicht festhaltbaren Wassers, das eine perlende, zerreißende Schnur bildet, vereinen sich zum differenzierten Vorgang, zur komplexen Bewegung, die der Ruhe folgt. Im Hintergrund – nein, einfach an anderem Ort im kompositorisch genutzten Raum der Bühne – ist sie, diese Bewegung, der Kontrast/Nicht-Kontrast des Tuns/Nicht-Tuns der Anderen.

Ich erinnere mich an ein Liegen, auf dem Boden, auf diesem Bühnenraum (einem in der Imagination grenzenlosen Raum – grenzenlos, wie jedes weiße Blatt Papier); ich erinnere mich an ein Sich-zur-Seite-Drehen, ein Kriechen auf dem Bauch, Bewegungen von drei Spielern, auf einander zu und an einander vorbei und über einander weg: wie Läufe einer Melodie, die parallel oder kontrastiv sind, sich begleitend oder kontrapunktisch, wie im Film Visuelles und Akustisches auf einander bezogen sein kann.

Ich erinnere mich an die Musikalität der Struktur: wie in der Stille der Bewegungslosigkeit unendlich leises Rutschgeräusch erscheint, um einem Klatschen der Hände Platz zu machen, während eben noch der Rücken hohl wird, abhebt, der Körper zurückfällt. Oder jetzt die Arme sich heben, um wieder auf dem Boden aufzuschlagen. 

Ich erinnere mich, viel später, an den schönen, schweren, aber doch „stumpfen“ Klang von faustgroßen Steinen, mit denen auf den Holzboden der Bühne geklopft wird.

Ich sehe vor meinem sich erinnernden inneren Auge noch einmal die Bewegungen des Klopfens der Klopfenden und ich weiß, daß gleichzeitig jemand mit langen Wollfadengeflechten die Luft durchzog, sie „peitschte“ – sanft, und kaum hörbar. Und doch unbewusst als Geräusch wahrgenommen. So wie jene einsetzende Stille, wenn das Wort sich nur als zur Rundung geöffneter Mund artikuliert, ohne wirklich noch laut zu werden. Lautstärke „Null“ als Grenzwert.

Ich denke jetzt zurück an das Fallenlassen von weicher, fast flockiger Erde.

Ich denke an preußischen Stechschritt und its cracking sound, das Harte des Auftritts, auch metaphorisch, nicht nur akustisch.

Dies, und die Frau, ihr Körper angeschmiegt an den umarmenden eines Mannes –  androgyne Einheit, Plastizität sanfter Linien und Formen, die zur atmenden, lebenden momentanen Skulptur gerinnen –  waren wiederum „Kontrapunkte“; letzteres nicht ohne den Dritten, sein Abseitsstehen, Abseitssitzen, sein Fallen-lassen der Erde oder des erdigen Sands.

Unmittelbar nach der performance, dem Theater, der Pantomime, der nicht ganz stillen „stillen Musik“ (silent music) im Raum der Körper, ihrer Bewegungen und Klänge,  der Metamorphose der Bewegungen und Klänge, war ich ungeduldig genug, zu sagen, eigentlich seien diese letzten Sequenzen des Ganzen narrativer, psychologisierender, weniger absolut als Form, Ablauf, und objektivierte (rezipierbare und  in uns reproduzierbare) Emotion. Aber ich weiß nicht –  vielleicht bin ich vorschnell gewesen. Auch diese Elemente sind in keine Geschichte integriert, die sich (nach-)erzählen ließe. Die „Naturgeschichte“ der Körpersprache ist eine Art Archäologie, die in der Simultaneität der „Ausgrabungsstätten“ und ihrer Verknüpfung/Korrelierung mit formalen, nichtnarrativen Mitteln beschlossen ist. Und jede „Ausgrabungsstätte“ ist der Ort eines Ereignisses (event); das Ereignis aber fällt in eins mit seinem „Ausgraben“/“Ausgegraben werden“ – dem Isolieren, dem Sichtbar-Machen.

Es ist Produktion –  von Alltagsgeräuschen, Alltagsbewegungen: ihrer Schönheit, sobald ihre Wahrnehmung ent-automatisiert ist. Sobald sie lang angehalten, beschleunigt, konfrontiert werden mit ihrem „Anderen“.  Überhaupt mit Anderen (Menschen und Dingen), ihren tempi und Verlaufsformen. Und so wahrgenommen werden in einer Klarheit und Absolutheit, die die reiner Farben und Formen ist (in einem Kontext des Lebens, der Bewegung und des Anhaltens). Derer sich Verstand und Gefühl, damit konfrontiert, vergewissern; in Schwingungen versetzt im selben Moment, da sie ihnen begegnen.
 

Dieser Text, in der Nacht der Uraufführung verfaßt und am frühen Vormittag des 25. März 1986 vom Verfasser den „Aachener Nachrichten“ in deren am Stadtrand gelegenen, ohne Auto nur auf zeitraubende Weise erreichbaren Redaktionsräumen angeboten, wurde nicht veröffentlicht. 

Die "Aachener Nachrichten" leiteten die Rezension aber offensichtlich an die Neue Galerie oder das Aachener Theater weiter. Dieter Schnebel, dem der Text dann übersandt wurde, schrieb, auch den „Stil“ des Verfassers lobend, sehr freundlich zurück, wobei er - wohl aus Höflichkeit - betonte, er habe "viel" daraus „gelernt“. 

Ein späterer Kommentar AWs merkt an:

Ich habe mich inzwischen gefragt, ob der Text nicht zu ‚inhaltsleer’, zu ‚formalistisch’ ist, insofern er z.B. Gefühle nicht benennt, die ausgelöst werden ( –  allerdings: sie können in jedem Zuschauer/Zuhörer andere sein, zumindest anders von ihm benannt werden? – ) und insofern nicht versucht wurde, von Bedeutungen zu sprechen, die umschlossen sind in dem, was an „Elementen“ (?) einer Körpersprache in dem Werk, seinen Abläufen und STOPS, sichtbar/hörbar wurde.
Tatsächlich habe ich versucht, das „Funktionieren“, die „Produktionsgesetze“ des Werks – soweit ich es als interessierter Laie konnte – zu verstehen und auszusprechen, in der Absicht, das, was dabei in Zuschauern/Zuhörern (the audience) an Gefühlen und Bedeutungen, die das Werk in ihnen anklingen läßt, assoziiert würde, möglichst nicht zu präjudizieren. Sondern hier jene Freiheit „walten“ zu lassen, die ich auch an dem Werk als so erfrischend wahrnehme. Es kann nicht darum gehen, eine Interpretation zu oktroyieren, wenn das Werk uns eine solche Freiheit lässt;  sie, als Existenzmöglichkeit (utopisch),  erfahrbar macht.
 

 

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